Und Jesus sah in die liebenden Augen der Kinder und segnete sie. (nach Mk 10, 16)
Jesus möchte die Menschen durch seine Liebe an sich binden. Diese Bindung sollen die Menschen aber freiwillig eingehen, denn Liebe entsteht und gedeiht nur in Freiheit. Gott zeigt seine Liebe durch die Schöpfung, auf deren Gaben wir insbesondere heute am Erntedankfest blicken.
Wenn wir an die Schöpfung der Welt denken, kommt uns schnell der Schöpfungsbericht im Buch Genesis in den Sinn. Um einen Bericht handelt es sich aber gar nicht. Vielmehr haben wir es mit einem Schöpfungs-Hymnus zu tun, der nicht naturwissenschaftlich betrachtet werden darf, sondern religiös und mythisch gelesen werden muss. Dieser Hymnus stellt sich wie ein Liebeslied in sieben Strophen dar, das von der Liebe Gottes zu seiner Schöpfung erzählt. Am Ende jeder Strophe heißt es dort: Alles war sehr gut. Man könnte auch sagen: Alles ist durchdrungen von Liebe, an die uns der Schöpfer binden möchte. Wenn Gott etwas anpackt, dann ist es voller Liebe. Wenn Menschen etwas anpacken, zeigt sich ihre Begrenztheit in der Liebe. Immer wieder geschehen Ereignisse lieblos. Trotzdem sind wir eingeladen, die grenzenlose Liebe, die Gott in die Schöpfung hineingelegt hat, anzunehmen und daraus zu leben und zu handeln. Das bedeutet auch, Verantwortung für diese Schöpfung zu übernehmen und sie zu bewahren. Wer die Schöpfung achtet, ist nah an Gott, dem Schöpfer. Der Mensch hat darum keinen Herrschaftsauftrag, sondern einen Liebesauftrag von Gott erhalten. Wenn Gott uns durch die Liebe binden will, dann können wir diese Bindung lernen, indem wir die Geheimnisse der Schöpfung wahrnehmen, zulassen und sie in unserem Herzen groß machen.
Ich möchte diesen Liebesauftrag vom Ende des heutigen Evangeliums her betrachten. Man bringt Kinder zu Jesus, damit er sie segnet. Die Jünger weisen die Leute schroff ab, doch Jesus sagt: „Lasst die Kinder zu mir kommen; hindert sie nicht daran! Denn Menschen wie ihnen gehört das Reich Gottes.“ (Mk 10,14) Kinder scheinen einen besonderen Zugang zum Reich Gottes zu haben, den man für sich verinnerlichen sollte. Wenn wir in das Gesicht eines Kindes schauen, erfüllt uns das mit tiefer Freude, Dankbarkeit und Liebe. Im Grunde sehen wir nur Liebe in den Augen der Kinder. Liebe ist das Wesen von Gottes Reich.
Kinder tragen ein Ur-Vertrauen in sich und haben eine religiöse Ader, weil sie staunen können, weil sie sich wundern können. Mein alter Freund Lothar Heiser hat bei den Jesuiten in Berlin sein Abitur gemacht und wurde in Griechisch, Philosophie und Theologie ausgebildet. Er hat mir erzählt, dass man damals, wenn der Lehrer in die Klasse kam, sagte: „Da kommt Thaumatso“. Übersetzt heißt diese griechische Verbform: „Ich wundere mich“. Man könnte auch sagen: „Ich träume“ oder „ich staune“ Ein ausgebildeter Lehrer und Philosoph wurde damals als jemand beschrieben, der sich noch wundern kann, der die Heilige Schrift liest und darüber staunt, welche Tiefe und Liebe in ihren Texten zu finden ist. Das ist vergleichbar mit einem Kind, das immer wieder Neues in der Welt entdeckt und sich daran festhält. Es macht aus kleinen Dingen etwas und ist niemals berechnend, fragt sich nie, was es von einer Sache hat. Es kennt den Vergleich mit anderen noch nicht und will sich nicht mit blinder Kraft durchsetzen. Ein Kind ist offen und innerlich frei für die Wunder der Wirklichkeit.
Ich denke an dieser Stelle an das Gleichnis vom Senfkorn, mit dem Jesus unseren Blick auf das Kleine richten möchte, das erst gar nicht auffällt. Wenn es aber wachsen darf und kann, wird es zu einer großen Pflanze. Das ist sicherlich auch ein Bild dafür, dass wir keine Angst vor den scheinbar Großen haben sollen, dass wir uns nicht von jenen abschrecken lassen sollen, die vorgeben, die absolute Wahrheit zu haben. Die Kleinen, die offen sind für das Leben und sich wundern können, sind die wirklich Entscheidenden. Jeder, der vermeintlich klein ist, ist Gottes geliebtes Kind, das aus dieser Liebe leben und handeln soll.
Leider müssen wir immer wieder feststellen, dass die Liebe der Kleinen zurückgedrängt wird und dass Lieblosigkeit sie trifft. Kindern wird die Liebe entzogen, so dass das Ursprüngliche in ihnen zerstört wird. Sie erfahren oft eine strenge und lieblose Erziehung, wo sie elterliche Bestätigung und Ermutigung brauchen würden. In ihnen findet sich eine grenzenlose Sehnsucht nach Liebe und sie müssen wissen, dass es Menschen gibt, auf die sie vertrauen und zu denen sie mit ihrem Bedürfnis nach Zuwendung kommen können. In einem Klima der Geborgenheit kann Liebe wachsen. Stattdessen treffen Kinder in der Realität oft auf Erniedrigung und Demütigung. Schaut man in die Schriften von Dostojewski, so fällt auf, dass er das Kleinmachende und Unterdrückte immer wieder neu beschreibt. Er erzählt, was Menschen aushalten müssen und wo die Ursachen dafür zu finden sind, dass sie die Liebe aus ihren Herzen verloren haben. Kinder sind wehrlos gegenüber den Lieblosigkeiten der Erwachsenen. Darum müssen wir umso behutsamer mit ihnen umgehen. Schöpfung heißt, in der Liebe zu wachsen. Ich bin sicher, dass unsere Welt anders aussähe, wenn unsere Kinder in Zuwendung und mit Ermutigung groß werden könnten.
Die Erzählung von der Segnung der Kinder ist ein Impuls für jeden Menschen, das Kind in sich wahrzunehmen und zu erhalten. Wir sollen spüren, dass das Staunen zur Philosophie und zum Glauben gehört. Können wir nicht mehr über die Schöpfung oder die Liebe Gottes staunen, sind wir weit von Gott entfernt. Im Glauben zu wachsen, bedeutet daher auch, im Kindsein zu wachsen. Dort liegen die segensreichen Verheißungen Gottes. Wer die Liebe Gottes im eigenen Herzen spürt, kann wahrhaftig durch das Leben gehen und aus einem grenzenlosen Vertrauen heraus leben und handeln.
Das führt mich zum ersten Teil des Evangeliums. Hier blickt Markus auf ein Problem unter den Erwachsenen. Eine Gruppe Pharisäer kommt zu Jesus und stellt ihn auf die Probe. „Darf ein Mann seine Frau aus der Ehe entlassen?“, wird Jesus gefragt. Diese Szene spiegelt die von Männern dominierte und geprägte Welt der damaligen Zeit wider. Männer hatten das Recht, ihre Frauen aus der Ehe zu entlassen, weil Mose ihnen dazu die Erlaubnis erteilt hatte. Als Grund reichte es in früher Zeit, dass die Milch übergekocht oder das Essen verbrannt war. Dass Männer meinen, sie ständen über den Frauen, zeigt sich bis heute auch in der Kirche – aktuell in den unterschiedlichen Positionen der Bischöfe, die bei den Gesprächen im Rahmen des synodalen Weges vertreten werden. Dass Frauen einen angemessenen, ja einen gleichberechtigen Platz in der katholischen Kirche bekommen, wird weiterhin von einigen Männern in dieser Kirche blockiert.
Jesus kennt das Gesetz Mose, aber er antwortet nicht nach diesem Gesetz. Vielmehr sagt er den Pharisäern, dass es das Gesetz nur gibt, weil „ihr so hartherzig seid“ (Mk 10,5). Die Erwachsenenwelt richtet sich nicht nach der Liebe aus, sondern Lieblosigkeit und die starre Treue zum Gesetz bestimmen das Leben. Diese Starrheit wiederum ermöglicht es den Männern, willkürlich mit den Frauen umzugehen. Männer entscheiden über das Schicksal der Frauen. Diese Frauen sind ihnen schutzlos ausgeliefert, weil das Gesetz das Handeln der Männer rechtfertigt. Eine Verbindung auf Herzenshöhe kann auf dieser Basis gar nicht entstehen. Dass zeigt sich auch im Umgang der Pharisäer mit Jesus. Um ein Gespräch auf Augen-, gar auf Herzenshöhe, in dem man über eine theologische Frage diskutiert, handelt es sich nicht. Die selbstgerechten Männer möchten Jesus mit ihrer absoluten Lieblosigkeit eine Falle stellen, indem bewiesen werden soll, dass er dem Gesetz nicht folgt. Die Pharisäer wollen ihn loswerden, weil er zu viel Liebe in seinem Herzen trägt. Jesus antwortet aber grundsätzlich nicht mit dem Gesetz, sondern immer mit dem Weg der Liebe, weil er uns durch seine Liebe an sich binden möchte.
Gesetze können die Fragen des Herzens nicht beantworten. Das Leben läuft unpersönlich ab, wenn es ganz und gar geregelt ist. Gesetze braucht man, wenn die Liebe zu Ende ist. Im Falle der Ehe geht es aber doch gar nicht um die Frage, wie man so schnell wie möglich per Gesetz aus ihr herauskommen kann. Vielmehr geht es um die Frage, wie man die Ehe in Liebe leben und wie ich dem anderen und mir selbst zum Segen in dieser Verbindung werden kann. Die Menschen, die Jesus auf die Probe stellen, sind lieblos. In ihnen spürt man das Böse und Harte in den Herzen der Erwachsenen. Die Kinder, die er segnet, sind hingegen voller Liebe. Jesus eröffnet uns mit ihnen einen Weg, die Liebe wieder neu zu erblicken. Gott sei Dank, lebt sein Geist der Liebe mitten unter uns. Gott sei Dank, können wir ihn zu unserem Vorbild nehmen. Wir sind eingeladen, diese Liebe immer wieder neu zu ergreifen und zu leben. Wer die Liebe in sich trägt, braucht das Gesetz nicht. Denn die Liebe steht über dem Gesetz – oder noch mehr: die Liebe steht über allem.
„Gesetze brauchen wir, wenn die Liebe zu Ende ist“
Und Jesus sah in die liebenden Augen der Kinder und segnete sie.
27. Sonntag im Jahreskreis