Vor 30 Jahren habe ich eine interessante Erfahrung gemacht. Als Praktikant in Pfalzdorf habe ich zusammen mit dem Pastor kranken und alten Menschen einmal im Monat die Kommunion nach Hause gebracht. So fand ich mich an einem dieser Tage vor einem Tor, das den Eingang zu einem Haus versperrte. An dem Tor war ein Schild mit der Aufschrift: „Vorsicht vor dem bissigen Hund“ angebracht. Was sollte ich machen? Es trotzdem wagen, hineinzugehen? Warten? Lieber das Weite suchen? Während ich nachdachte, kam plötzlich ein sehr kleiner Hund zum Tor, der so klein war, dass man ihn kaum sehen konnte. Ich schaute erneut auf das Schild und las nun eine ganz andere Aufschrift: „Vorsicht vor dem bisschen Hund“.
Ich habe mich an diese Geschichte erinnert, als ich das Liederheft für den Abiturgottesdienst auf meinem Schreibtisch in der Friedensschule liegen hatte. Es trug die Überschrift: „Auf dem Weg im Leben“. Viele haben darin aber die Worte „Auf dem Weg ins Leben“ gelesen. Gerade das wollten die Jugendlichen nicht ausdrücken. Ihre unerwartete Formulierung war ihnen wichtig, weil das Leben für sie nicht erst nach dem Abitur beginnen sollte. 18 Jahre Leben liegen mit dem Abitur bereits hinter ihnen. 18 Jahre Leben bedeuten 18 Jahre Erfahrungen. In jedem Moment dieser 18 Jahre haben sie das Leben gelebt. Das Leben wird in der Gegenwart gelebt. Die Jugendlichen wollten daher Wege in ihrem Leben beschreiben. Die Wege, die mit Erlangen des Abiturs hinter ihnen lagen, sollten mit in ihr Leben hineingenommen werden. Der Gottesdienst zum Abitur bot für sie eine Gelegenheit, innezuhalten, den beschrittenen Wegen nachzuspüren und über sie zu reflektieren.
Die Jugendlichen haben während des Gottesdienstes selbst ein Lied gesungen, um von Erfahrungen, die sie in der Schulzeit gemacht haben, zu erzählen. In diesem Lied heißt es gleich zu Beginn: „Die Bibel ist nicht perfekt“. Wir haben lange über diesen Satz nachgedacht. Die Wege im Leben werden immer dadurch geprägt, dass Menschen begrenzt sind und sich als begrenzt verstehen müssen. Kein Mensch ist perfekt. Perfektionismus entspricht nicht dem Wesen des Menschen – ihn zu erstreben, läuft daher am Wesentlichen vorbei. Wie oft fragen Schülerinnen und Schüler, ob sie noch einen Punkt mehr bekommen könnten. Wenn Menschen vom Perfektionismus eingenommen sind, setzen sie sich selbst unter Druck. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass man viel erreicht hat, wenn man 80% von dem erreicht, was man erreichen wollte. Die letzten 20% auch noch zu erreichen, würde sehr viel Kraft kosten und nicht in Relation zum Ergebnis stehen. Dem Perfektionismus zu widerstehen, ist ein kluger Weg im Leben.
Weiter im Text des Liedes begegnet uns das Bild der Schlange aus dem Alten Testament. Sie steht für die Versuchung. Die Jugendlichen und ich haben in diesem Zusammenhang darüber nachgedacht, wer uns Wege eröffnet und uns im Leben führt. Sind das immer unsere eigenen Wege? Wir müssen stets achtsam sein, dass wir uns nicht auf Wege leiten lassen, die für uns selbst zu Abwegen werden. Gerade in schwierigen Situationen können leichte Lösungen blenden, verführerisch sein. Dann gilt es, zu überlegen, ob der Weg zum eigenen Charakter passt und ob er die eigene Not wendet. Im Grunde warten auf allen unseren Wegen folgende Fragen auf ihre Beantwortung:
- Wer bin ich?
- Was suche ich?
- Was erfüllt mich?
- Mache ich das, was ich tue, aus Liebe zu mir selbst, zum Nächsten, zur gesamten Schöpfung und zu Gott?
- Was kann ich dazu beitragen, dass diese Welt menschlicher und liebevoller wird?
Auf unseren Wegen brauchen wir Bescheidenheit und Zufriedenheit mit dem, was das eigene Leben ausmacht. Mithilfe des Bildes einer Messlatte aus dem Sportunterricht habe ich die Jugendlichen darum gebeten, über ihr eigenes Maß nachzudenken. Legen wir die Messlatte zu hoch an, an eine Stelle, die wir niemals erreichen können, werden wir niemals mit dem Ergebnis unseres Könnens und Vermögens zufrieden sein. Erschwerend kommt hinzu, dass wir uns dabei zu oft mit anderen Menschen vergleichen. Da wir alle unterschiedliche Fähigkeiten und Talente haben, ist es entscheidend, sich mit sich selbst zu vergleichen. Wer bin ich vor einem Jahr gewesen – wer bin ich heute? Was hat sich bei mir entwickelt und entfaltet? Was ist in mir lebendig geworden?
Das führt uns zum heutigen Evangelium über den Sturm auf dem See. Matthäus beschreibt, wie die Jünger zusammen mit Jesus in einem Boot auf einem See fahren. Während Jesus schläft, bricht ein gewaltiger Sturm aus, der das Boot in Gefahr bringt. Die Jünger wecken Jesus auf und bitten ihn, dass er sie rettet. Jesus antwortet auf diese Bitte nicht mit dem Hinweis, dass sie sich ausschließlich zurücklehnen sollen, sich nicht einmischen sollen. Wenn wir uns sein Handeln zum Vorbild nehmen, dann müssen wir in schwierigen Situationen aufstehen und etwas gegen sie tun. Die Bergpredigt findet hier deutliche Worte. Menschen sollen diese Welt mitgestalten und prägen. Das Leben ist manchmal ein wilder und tanzender Ozean und wir sitzen in einer kleinen Nuss-Schale, die auf ihm schwimmt. Keiner steht im sicheren Hafen und darum gilt es, dass jeder Mensch all seine Energien mobilisiert, um das Leben für sich und für andere zum Gelingen zu bringen, um sich für Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit einzusetzen. Wenn Menschen kleingemacht werden, wenn Kinder missbraucht werden, wenn Menschen an ihrer Armut zugrunde gehen, müssen wir aufstehen und Lieblosigkeit in Liebe verwandeln.
Ein zweiter Blick auf das Evangelium zeigt, dass Jesus seine Jünger ermahnt. Er mahnt zum Vertrauen und zur Gelassenheit. Auch wenn wir im Leben hin- und hergeschaukelt werden, empfiehlt er „eine Haltung schlafwandlerischen Vertrauens“, wie Eugen Drewermann es ausdrückt. Das ist eine Haltung des Nicht-Machens, des Lassens. Glaube bedeutet auch, dass wir unser Leben in Gottes Hand legen und ihn von Zeit zu Zeit einfach machen lassen. „Durch das Nichthandeln ist alles gemacht“, sagt eine chinesische Weisheit. Ein tiefes Urvertrauen in Gott, in seine Liebe, von der wir gewiss sein können, dass sie Gutes für uns will, kann uns durch stürmische Zeiten tragen.
In dieser Spannung leben wir: auf der einen Seite sind wir gefordert, für ein gelingendes Leben der Menschen aufzustehen und aktiv zu werden; auf der anderen Seite sollen wir dabei unsere Gelassenheit und unser Gottvertrauen nicht verlieren.
Für ihre Wege im Leben habe ich den Jugendlichen drei Merksätze mitgegeben.
Der erste Merksatz stammt von John Lennon: „Das Leben geschieht, während du damit beschäftigt bist, andere Pläne zu machen“. Ein aufmerksamer Blick ist ein guter Wegweiser durch das eigene Leben.
Der zweite Merksatz stammt von Augustinus: „Liebe – und dann tue, was du willst“. Die Liebe im Herzen sollte das Fundament allen Handelns sein.
Das letzte Wort wird Martin Luther zugeschrieben: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen“. Gerade in diesen schweren Zeiten kann solch ein Wort Ansporn geben, Neues aufzubauen oder zu wagen.
Ich wünsche uns allen, dass wir das Leben als kostbarstes Geschenk annehmen können. Es ist unser Geschenk von Gott. Er hat es mit seiner Liebe erfüllt und diese Liebe wird uns einmal von diesem Leben in seine Welt tragen. In diesem Vertrauen dürfen wir hoffnungsvoll unsere Wege durch unser Leben gehen.
Auf dem Weg im Leben
Abiturgottesdienst 2022
Mt 8,23-27