Die Botschaft von Weihnachten möchte uns menschlicher machen. Wir sind eingeladen, uns nach dem Vorbild Jesu auszustrecken, nach ihm, der wahrhaft menschlich gelebt hat. Wohl dem Menschen, der in seiner Kindheit Erfahrungen von Menschlichkeit und Liebe gemacht hat. Diese Erfahrungen werden seinen Lebens- und Glaubensweg in jedem Moment begleiten. Der Weg des Glaubens ist aber ein persönlicher Weg. Jeder Mensch muss selbständig werden und für seinen Weg selbst Verantwortung übernehmen. Am Ende des Lebens werden wir nicht gefragt, was andere für uns entschieden haben, sondern wie ehrlich und wahrhaftig wir unseren eigenen Weg gegangen sind.
Das setzt voraus, dass wir über unser Leben und unser Wesen nachdenken. Das fällt nicht allen leicht, weil wir uns dabei selbst aushalten müssen, uns unserer eigenen Persönlichkeit mit ihren Höhen und Tiefen stellen müssen. Es ist wichtig, da wir nicht nur aus den Wurzeln heraus leben, die uns in der Kindheit mitgegeben wurden, sondern aufgefordert sind, aus ihnen heraus einen eigenen Weg zu formen. Daher müssen wir uns immer wieder mit den Fragen unseres Lebens konfrontieren und uns selbst dabei fragen:
* Wer bin ich?
* Kenne ich mich selbst?
* Wie lebe ich?
* Wo liegen meine Möglichkeiten?
* Wo stoße ich an meine Grenzen?
Eine wirklich ernstgemeinte Verantwortung können wir nur dann für unser Leben übernehmen, wenn wir wissen, was uns möglich und unmöglich ist.
Im heutigen Evangelium finden wir das Bild der Wüste als Einladung an den Menschen, sich zurückzuziehen, nachzudenken und den eigenen Lebens- und Glaubensweg nachzuspüren. Die Kapelle in der Friedensschule heißt ‚Oase‘. Es ist ein geistlicher Rückzugsort für die Schülerinnen und Schüler, an dem sogar in den Gottesdiensten die Möglichkeit besteht, allein in einer Ecke über einen Impuls in aller Ruhe nachzudenken. Wir brauchen diese Rückzugsorte, fernab vom Rummel, aber auch fernab von Kirche oder Tempel – also auch manchmal fernab von der Tradition –, um uns ganz auf uns selbst und unsere Verbindung zu Gott fokussieren zu können. Einer Weisheit der Araber zufolge ist die Wüste ein Garten, in dem Gott spazieren geht. Möchten Sie nicht auch einmal mit Gott spazieren gehen und dabei Ihr eigenes Ich, Ihr Denken und Fühlen vor Gott ausbreiten? Suchen Sie nicht auch einen Ort, an dem Sie eng mit ihm in Verbindung treten können? Solch ein Spaziergang ermöglicht es uns, zu unserer eigenen Wahrhaftigkeit zu finden. Auf dieser Grundlage können wir neue Perspektiven im Leben und im Glauben entdecken und Verantwortung für unser Sein und unsere Entscheidungen übernehmen.
So hat auch Johannes der Täufer Stadt und Alltag verlassen, um sich in der Einsamkeit und Stille der Wüste freizumachen, um in sich zu gehen und nachzudenken. Dort findet er den richtigen Ort, um anderen Menschen Impulse über das Leben mitzugeben. Sie spüren, dass er Worte des Lebens für sie hat, und pilgern ihm daher nach. Das Besondere an Johannes ist, dass er von sich selbst weg weist und immer wieder auf Jesus Christus zeigt. Er ist die Stimme für das Wort Gottes, das Jesus verkörpert. Er tritt selbst zurück, um Jesus groß zu machen. Der Isenheimer Altar, ein spätmittelalterliches Gemälde von Matthias Grünewald, macht dies anschaulich, indem er Johannes bei der Kreuzigung Jesu auftreten lässt, obwohl er damals eigentlich schon tot war. Johannes zeigt mit einem langen Finger auf den am Kreuz hängenden Jesus. Dazu hat der Maler die Worte „Jener muss wachsen und ich muss abnehmen“ formuliert. Johannes ist insofern ein Prophet, als er für einen anderen, für Jesus, spricht. Das Wort ‚Prophet‘ kommt von ‚pro-phari‘ und bedeutet genau dies: jemand spricht für jemand anderen. Johannes schlägt mit seinen Prophezeiungen die Brücke vom ersten zum zweiten Testament, weil er verkündet, dass die Verheißungen des ersten Testaments in der und durch die Person Jesus von Nazareth erfüllt werden.
Johannes lebt ein einfaches Leben in der Wüste. Er trägt kein feierliches Gewandt, sondern einfachste Kleidung. Äußerlich ist er keine anziehende Erscheinung. Er ernährt sich von Heuschrecken und wildem Honig und er lebt mit den Armen. Als ich dies las, habe ich mich sofort an das Zweite Vatikanum erinnert. Dort sagte Johannes XXIII., dass er sich eine Kirche der Armen und eine Kirche für die Armen wünsche. Beim sogenannten ‚Katakomben-Pakt‘ haben 40 Bischöfe – viele aus Lateinamerika, wenige aus Afrika, Westeuropa und Asien – daraufhin einen ‚Pakt der Armut‘ geschlossen. Sie gelobten, ihr Leben radikal zu ändern und künftig den „Weg von unten“ zu gehen. Später schlossen sich weitere 500 Bischöfe aus aller Welt an. Sie verpflichteten sich, auf Titel, Insignien, große Autos, goldene Kreuze, auf jegliche Art von Luxus überhaupt zu verzichten und Bescheidenheit und Schlichtheit zu leben. Damit haben sie die Tradition des Johannes weitergeführt und so gelebt, wie die meisten Menschen um sie herum lebten.
Wir tragen Verantwortung für die Art und Weise, wie wir leben und glauben. Der Glaube ist ein Weg, den wir alle persönlich und individuell gehen. Gott ist nur Liebe, singen die Brüder von Taizé. Gehen wir unseren eigenen Weg in Liebe? Gehen wir verantwortlich mit dem Leben der anderen Menschen und mit der gesamten Schöpfung um? Leben wir Ehrlichkeit, Milde, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit? Lassen wir unser Herz durch Personen wie Johannes und Jesus berühren? In dem Moment, in dem ein Funke der Liebe Gottes auf uns überspringt, entsteht Licht in dieser Welt. Hoffnung und Zuversicht kommen auf und leuchten uns den Weg. Mögen wir unser Licht wie Johannes von Jesus Christus empfangen und selbst zu Menschen werden, die das Licht der Liebe in die Welt tragen. Es werde hell auf der Erde – auch durch uns.
Spuren meiner Kindheit – Erziehung und Eigenverantwortung
Mt 3,1-12