Kinder brauchen Wurzeln, aus denen sie leben. Simone Weil sagt: „Die Verwurzelung ist vielleicht das wichtigste und meistverkannte Bedürfnis der menschlichen Seele“. Wenn sich Kinder erwünscht fühlen, wenn sie Geborgenheit in der Familie spüren und auch um Gott nicht betrogen werden, wird ihnen ein unverzichtbares Fundament für das Leben geschenkt. Irgendwann müssen sie selbst Verantwortung übernehmen. „Segne dieses Kind, segne dieses Kind, dass es sehen lernt mit seinen eigenen Augen“, bemerkt Lothar Zenetti. Die Wurzeln der Liebe stärken sie dabei und tragen sie als Heimat durch das Leben. Kinder werden in Gemeinschaften groß, beispielsweise in Familien, in denen sie lernen, mit Menschen in Beziehung zu treten. Sie brauchen aber ebenso Rückzugsorte, in denen sie allein sein können, in denen sie Intimität erleben dürfen und in denen Gespräche unter vier Augen möglich sind. Es ist für ihre Persönlichkeit wichtig, dass sie dort frei gestalten und Freunde mitbringen dürfen. Irgendwann werden Kinder zu Menschen heranwachsen, die sich selbst und das Leben hinterfragen. Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was möchte ich erreichen? Wofür lebe ich? Diese Fragen spiegeln eine existentielle Sinnsuche wider, die den Menschen sein Leben lang begleiten wird.
Ich besuche regelmäßig Menschen, die im Sterben liegen, und immer erlebe ich es als bereichernd, wenn diese Menschen spüren und wahrnehmen, dass sie ein sinnvolles Leben geführt haben. Wir sind jeden Tag mit Sinnlosigkeiten konfrontiert, mit Kampf und Krieg, mit sinnlosem Morden und Unterdrückung. Diese Sinnlosigkeiten beeinflussen unser Leben, so dass es manchmal schwer fällt, Sinn im Leben zu finden. Im Grunde wissen wir natürlich, was ein sinnvolles Leben ausmacht. Wenn Menschen uns zugeneigt sind, wenn sie uns halten und tragen, wenn wir spüren, dass Glaube, Hoffnung und Liebe uns umgeben, erleben wir, welch tiefen Sinn das Leben haben kann.
Es gibt göttliche Zeichen, die uns helfen wollen, tiefer in das Leben einzutauchen und es sinnvoll zu gestalten. Die Texte der heutigen Lesungen verstehe ich als solche Zeichen. Sowohl Jesaja als auch Matthäus schreiben davon, dass einer Jungfrau ein Sohn geboren werden soll. Die Jungfräulichkeit ist primär keine Aussage über die Mutter, sondern darüber, dass Gott andere Wege geht, als sie uns Menschen möglich sind. Sie ist ein Bild für die vollkommene Reinheit Jesu Christi, dem Gottessohn. Im 8. Jahrhundert vor Christus kündigt der Prophet Jesaja solch einen Sohn mit Namen Immanuel an. Dieser Name bedeutet ‚Gott ist mit uns‘. In der Frömmigkeit der damaligen Zeit ist dieser Gedanke, dass Gott in die Geschichte des Menschen eingeht und seinen Weg begleitet, neu gewesen. Die Prophezeiung des Jesaja scheint sich mit der Geburt Jesu 800 Jahre später erfüllt zu haben. Maria hat durch das Wirken des Heiligen Geistes, durch Gottes Kraft und Wirken, ein Kind empfangen, das den Namen Jesus – ‚Gott rettet‘ – bekommen soll. Fasst man diese beiden Namen zusammen, so wird uns ein Gott verkündet, der an unserer Seite ist und der uns davor bewahren möchte, dunkle und lieblose Wege zu gehen.
Gott hat sich in Jesus von Nazareth für uns offenbart, sein Wesen in dieser Welt konkret gezeigt. Es ist unser Glaube, dass dies ein einmaliges Ereignis war. Gott ist Mensch geworden. Wir beten im Großen Glaubensbekenntnis die Worte „gezeugt, nicht geschaffen“ und „eines Wesens mit dem Vater“. Beides unterscheidet den Gottessohn Jesus Christus von uns. Wir sind Gott ähnlich – seine Abbilder. Er war Gott gleich – sein Ebenbild. Jesus war mehr als ein Prophet. Er war ganz vom Geist Gottes durchdrungen und kann uns daher ein Vorbild für ein Leben im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe sein. Wo das Leben auf solche Weise gelebt wird, erlangt es Tiefe und Sinn.
Was wollte Gott damit bewirken, dass er Jesus ‚in die Welt gesandt‘ hat? Ich möchte Ihnen einige Bilder mit auf den Weg geben:
* Das Entscheidende ist, dass Gott mit uns durch die Zeit geht und uns nah sein möchte. Wir sollen die Gewissheit haben, niemals allein zu sein und uns Gott anvertrauen zu können. Jesus konnte seinen Weg zum Kreuz aus dem Grund aufrecht gehen, weil er in diesem Vertrauen auf seinen Vater gelebt hat. Er hat uns vorgelebt, was wir nachleben dürfen.
* Wir stehen unter Gottes Schutz, selbst wenn wir uns schutzlos fühlen. Unter seinen Flügeln finden wir Zuflucht. Wenn andere Menschen uns beschützen, wird der Schutz Gottes für uns konkret und erfahrbar. Wir dürfen uns an Gottes Schutz ein Beispiel nehmen und anderen Schutz schenken.
* Gott ist voller Erbarmen. Seine Gerechtigkeit ist stets mit Barmherzigkeit erfüllt. Daran sollen wir uns orientieren. Christliches Leben hat Konsequenzen und daher sind wir gefordert aufzustehen, wenn uns Ungerechtigkeit begegnet. Wir dürfen aber niemals die Barmherzigkeit aus den Augen verlieren und innerlich hart werden. Vielmehr wünscht Gott sich, dass wir uns von seinem göttlichen Erbarmen umhüllen lassen und davon durchtränkt werden.
* Gott möchte den Menschen aufrichten und stärken. Selbst wenn wir in der Gesellschaft kein hohes Ansehen genießen, dürfen wir auf die Lebenskraft, die Gott uns schenkt, vertrauen. Sie ist ein fester Boden unter unseren Füßen, der uns wirklich trägt und uns gelassen und wahrhaftig durch das Leben gehen lässt. Vor Menschen brauchen wir uns nicht zu bücken. Gott will, dass wir aufrecht, wahrhaftig und angstfrei unseren Weg gehen. Wenn wir uns vor ihm verbeugen oder niederwerfen, ist das ein Zeichen der Liebe, die wir von Gott in dieser Geste in guter Weise empfangen können.
Wie sinnvoll kann unser Leben werden, wenn wir all dies in uns spüren und daraus leben!
Wir spüren, was es bedeutet, wenn wir Erfahrungen des Lebens nicht allein machen müssen, sondern teilen dürfen. Gott als Wegbegleiter zu wissen, kommt diesem Bedürfnis entgegen. Für Kinder ist es aber ebenso wichtig zu erleben, dass die eigenen Eltern eng mit ihnen gehen und auch ihre Fehltritte und Grenzen mittragen. Wenn sie sich unendlich geliebt fühlen, haben sie ein festes Fundament, das ihnen helfen kann, auch Schweres im Leben bewältigen zu können.
Sind wir bereit zuzulassen, dass wir nicht nur auf eigenen Füßen stehen und aus den eigenen Kräften heraus existieren, sondern in unverzichtbaren Beziehungen zu anderen Menschen und zu Gott leben? Sind wir bereit, uns zuzugestehen, dass wir auf die Liebe angewiesen sind? Lassen wir uns von ihr berühren? Gelingt es uns, unsere Freuden und unsere Schwächen einem anderen anzuvertrauen, der uns stärken und ‚retten‘ möchte? Ich wünsche uns allen, dass unser Leben durch diese Eingebundenheit einen tieferen Sinn findet.
Spuren meiner Kindheit – Die Suche nach einem sinnerfüllten Leben
Jes 7,10-14 und Mt 1,18-24