Wir sind die Kirche und kommen mit schwerem Herzen zu Dir. Bitte schenke uns Deine Zuwendung, so dass wir den Mut zur Liebe haben und unsere Wahrhaftigkeit gestärkt wird.

Jeder Mensch braucht Zuwendung, um überhaupt leben zu können. Erst durch Zuwendung ist er in der Lage, die beiden höchsten Fähigkeiten zu erlernen, die ein Mensch innehaben kann. Das sind die Fähigkeiten, zu glauben und zu lieben.

Gott ist der Schöpfer alles Seins. Im Schöpfungsbericht in Genesis lesen wir, dass jeder Schöpfungsakt mit den Worten schließt: „Und er sah, dass es gut war“. Gott bejaht seine Schöpfung. Jedes Geschöpf trägt diese Bestätigung bereits dadurch in sich, dass es existiert. Allein durch die Tatsache seiner Existenz darf das Geschöpf gewiss sein, dass Gott es liebt. Gott wendet sich seiner Schöpfung zu und erachtet sie als liebenswert. Darauf dürfen wir vertrauen. Dem dürfen wir glauben. Diese Zuwendung Gottes weckt in uns den Glauben daran, dass Gott uns liebend zugewandt ist. Wer glaubt, verschenkt vertrauensvoll sein Herz. Im Glauben wendet sich der Mensch somit wiederum Gott zu.

 

Interessanterweise reicht dem Menschen diese bestätigende Liebe der Zuwendung durch Gott nicht. Er braucht zusätzlich die Liebe eines Menschen bzw. er benötigt diese Liebe, um in ihr das Fundament der Liebe Gottes zu erleben. Erfährt ein Mensch die Zuwendung eines anderen Menschen, so blüht er auf. Das zeigen Untersuchungen an Säuglingen. Man denkt, sie würden Schaden nehmen, wenn sie beispielsweise im Gefängnis geboren werden und nicht die komfortablen äußeren Bedingungen haben wie andere Babys. Werden sie dort aber von ihren liebenden Müttern groß gezogen, gedeihen sie gut. Anders die Babys, die ohne Mutter aufwachsen, aber sorgfältig ausgestattet und hygienisch einwandfrei leben. Ihnen fehlt das Entscheidende: die liebende Zuwendung. In diesen Kindern wird die Liebe nicht erweckt und darum verkümmern sie in ihrer Seele. Dieser Mangel schadet ihnen so sehr, dass sie das ganze Leben hindurch erkennbar versehrt sind. Sie tun sich daher auch schwer damit, sich anderen Menschen zuzuwenden.

Das Wesen der Zuwendung ist vor allem in der Compassion zu sehen. Wer sich einem Menschen zuwendet, fühlt sich in ihn ein und fühlt mit ihm mit. Wer sich zuwendet, wendet sich von sich selbst ab und dem Anderen zu. Er dreht seine Seele zum Anderen, sein Herz und seine Aufmerksamkeit. Dazu bedarf es einer tiefen Sensibilität, um die Bedürfnisse des Gegenübers zu erspüren.

 

Engel-1

Manchmal fällt Zuwendung schwer. Nicht jeden Menschen erlebt man als liebenswert. Trotzdem gilt es auch hier, sensibel zu sein und sich ihm zuzuwenden, wenn er diese Zuwendung braucht. Er ist ein Nächster, ein Mitmensch. Natürlich gibt es auch Menschen, vor denen man fliehen muss. Das sind Menschen, die einem die Liebe rauben wollen. Vor ihnen muss man sich schützen. Ich habe eine Schutzschicht um mein Herz, die mich davor bewahrt, die Liebe zu verlieren. Das liegt vor allem daran, dass ich herzlose Menschen gewissermaßen als Wesen einer anderen Welt empfinde, die mit meiner Welt keine Verbindung haben. Diese Menschen kommen an meine Liebe nicht heran. Ich gebe ihnen darüber keine Macht.

Dann sind da jene Menschen, bei denen es ganz leicht fällt, sich ihnen zuzuwenden. Die Zuwendung läuft selbstverständlich. Diese Menschen sind nicht nur Nächste, sondern Freunde. Wendet man sich ihnen zu, läuft das eigene Herz fast über vor Glück. Solch eine liebende Verbindung ist ein wahres Geschenk.

Auch die Liebe Gottes geht über die ursprüngliche Bejahung hinaus. In Exodus 3,14 offenbart Jahwe sein Wesen. Er ist der „Ich bin da“. Gott ist für den Menschen und für die gesamte Schöpfung da. Er steht in stetiger liebender Zuwendung zu ihr. Wir erkennen hier, was Liebe wesentlich bedeutet, nämlich da zu sein für den Anderen. Durch seine Selbstoffenbarung dürfen wir auf diese Liebe Gottes vertrauen. Er ist uns zugewandt und für uns da. Er trägt und hält uns. Dies wird auf wunderbare Weise auf dem Bild dargestellt, das in unserer Marienkapelle hängt. Der Mensch wird im Moment des Todes von Gott oder einem Engel innig umarmt, ummantelt. Seine ehemals dunkle Farbe gleicht sich dem kräftigen Rot des ewigen Lebens an, das die Liebe der Ewigkeit Gottes repräsentiert.

 

Zu Ostern wollte ich eigentlich die Geschichte „Magdalena am Grab“ von Patrick Roth mit Ihnen anschauen. Sie erzählt u.a. vom Morgen der Auferstehung, wie er im Johannes-Evangelium beschrieben wird. Maria Magdalena kommt zum Grab und findet es leer. Sie ist bestürzt, dreht sich um und geht vom Grab weg. Sie läuft an einem Mann vorbei, den sie aufgrund ihrer tränenden Augen als Gärtner wahrnimmt. Sie ist zu sehr in ihrem Leid verstrickt und nicht aufmerksam. Da hört sie ihren Namen und wendet sich um. Sie sieht den Auferstandenen. Sie erkennt im Gärtner den Auferstandenen, weil sie sich ihm zuwendet – weg vom Leid in der eigenen Seele und hin zum Anderen. Erst dadurch kann sie von der Tatsache der unglaublichen Auferstehung erfahren. Patrick Roth hebt Entscheidendes hervor. Der Wendung von Maria Magdalena geht die Wendung und Zuwendung des Auferstandenen voraus. Er ruft sie. Sie liegt ihm am Herzen. So entsteht eine Liebesbeziehung zwischen Gott und Mensch.

Ein drittes biblisches Beispiel einer Zuwendung finden wir in der Erzählung vom barmherzigen Samariter aus dem Lukas-Evangelium. „Wer ist mein Nächster?“, fragt ein Gesetzeslehrer Jesus. Als Antwort erzählt dieser von einem Menschen, der von Räubern überfallen wurde und verletzt in der Einöde liegt. Priester und Levit kommen nacheinander zufällig vorbei, sehen ihn und gehen weiter. Aber sehen sie ihn wirklich? Sehen sie ihn mit ihren Herzen? Das tut erst der Samariter, der als Drittes vorbeikommt. Sein Herz wird vom Leid des Verletzten bewegt und darum hilft er ihm. Er wendet sich ihm wahrhaft zu. Er ist barm-herz-ig. Er schenkt sein Herz einem Menschen, der ihn braucht. Wem willst du Nächster werden? Das ist die eigentliche Frage. Du musst dich wenden und dem Anderen zuwenden.

Sie halten heute alle ein Herz aus Stein in der Hand. Wir müssen im Leben immer wieder furchtbare Herzlosigkeiten erleben. Herzen können kalt sein. Zuwendung braucht aber ein warmes Herz. Reiben Sie an dem Steinherz, bis es warm wird. Wärmen Sie das Herz – Ihr eigenes und das Herz der anderen Menschen.

Ich habe in dieser Woche einen Mann aus der Gemeinde in den Tod begleitet. Er war mir über all die Jahre vertraut. Er hat sich in das Gemeindeleben eingebracht und hatte einen starken Glauben. Bei meinem letzten Besuch lag er in seinem Bett und konnte sich kaum noch bewegen. Ich habe ihm die Krankensalbung gespendet und mit ihm gebetet. Da hat er sich plötzlich mit aller Kraft auf die Seite gedreht und die Augen noch einmal für zwei Minuten geöffnet. Sein Blick war auf die andere Bettseite gerichtet – dorthin, wo seine Frau normalerweise liegt. Ich war in diesen Minuten bei ihm und habe ihn still mit meinem Herzen gehalten. Als er seine Augen wieder geschlossen hat, bin ich gefahren. Einige Minuten nach der Abfahrt rief mich seine Frau an und sagte mir, dass er gerade gestorben sei. Solch eine existentielle Erfahrung vergisst man nie. Wie wichtig ist es, in den Momenten des Sterbens bei einem Menschen zu sein und sich ihm ganz zuzuwenden.

„Keinen Tag soll es geben, da du sagen musst, niemand ist da, der mir die Hände reicht. Keinen Tag soll es geben, da du sagen musst, niemand ist da, der mit mir Wege geht. Keinen Tag soll es geben, da du sagen musst, niemand ist da, der mich mit Kraft erfüllt. Keinen Tag soll es geben, da du sagen musst, niemand ist da, der mir die Hoffnung stärkt“, so heißt es in dem Lied, das ich diesem Mann und seiner Frau bei ihrer Goldenen Hochzeit gesungen habe.

Ich wünsche uns allen, dass wir die liebende Zuwendung Gottes in jedem Augenblick unseres Lebens spüren. Lass sie unsere eigene Liebe stärken, mit der wir uns dem Anderen zuwenden. Mögen wir uns immer daran erinnern, wie wir gemeinsam den Glauben zusammen gelebt und geteilt haben.

Euer / Ihr Pastor

Thomas Laufmöller

Zuwendung

Versöhnungsfeier, Abschlussgottesdienst
19.03.2021

Lk 10,25-37

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