Ich bin seit vielen Monaten in Karfreitags-Stimmung. Immer wieder hatte ich gehofft, dass das Licht am Ende des Tunnels bald sichtbar wird, und dann hat mich ein weiteres Ereignis in der Dunkelheit des Tunnels gefangen genommen. Mit Raimund Heidrich schlage ich daher vor, dass der Karfreitag verlängert werden muss. In seinem Text „Auf Pfingsten vielleicht oder später“ beschreibt Heidrich, dass der Stein vor dem Grab Jesu in diesem Jahr einfach zu groß und zu schwer ist. Wer soll die Kraft haben, diesen schweren Stein wegzuwälzen, um einen Neubeginn zu ermöglichen? Für Ostern sind wir noch nicht bereit. Ausfallen soll es natürlich nicht, aber wir können es im Grunde nur im Modus der noch nicht erfüllten Sehnsucht feiern. Diese Sehnsucht ist letztlich das Einzige, was uns irgendwann die Kraft geben wird, den Karfreitag und seine Dunkelheiten zu überwinden.
Irgendwann also – nur heute noch nicht. Traurigkeit und Trauer sind nicht von jetzt auf gleich zu Ende. Sie lähmen den Menschen und die Sehnsucht in ihm hat es dann schwer, zum Motor zu werden. Trauer darf man auch nicht einfach zur Seite schieben, so als wäre eigentlich nichts. Der Trauer muss man sich stellen. Man darf ihr nicht ausweichen oder sie ignorieren. Sie muss angeschaut werden – mit Beharrlichkeit und Aufmerksamkeit. Man muss ihr auf den Grund gehen. Nur wenn man das getan hat, kann ein Weg in die Zukunft gelingen.
Meine eigene Trauer ist sehr komplex. Sie ist verbunden mit Wut, Unverständnis, Ohnmacht und Enttäuschung. Ich bin gefordert, sie ganz genau anzuschauen und für sie einen Platz in meinem Leben zu finden. Denn all das, was gerade an Trauer und ihren Verbündeten in mir ist, wird nicht einfach an einem bestimmten Tag verschwinden. Meine Erfahrungen müssen in mein Leben integriert werden. Ab jetzt sieht mein Leben einfach anders aus, als ich es erwartet hatte. Ich sehe anders aus. Ich bin anders, weil diese Trauer da und in mir ist – weil etwas geschehen ist, was mich traurig macht. Und dieses Geschehene ist geschehen. Man kann es nicht rückgängig machen oder so tun, als wäre es nicht geschehen. Es wird mich für immer mit bestimmen.
Wenn ich meiner Trauer einen Platz gegeben habe, kann ich nach Perspektiven Ausschau halten. Vorher nicht. Vorher würden Perspektiven reine Träume sein, Wunschvorstellungen, Rettungsphantasien, die in der Wirklichkeit niemals umgesetzt werden könnten.
Ich möchte durch das Dunkel hindurch. Ich möchte auferstehen. Auferstehen im Leben. Zurzeit spüre ich noch ein Leid in mir, das mich tief bewegt. Sterben ist schwierig, weil es immer bedeutet, dass das eigene Herz angegriffen wird. Entscheidend hierbei ist aber, dass dieser Angriff des Herzens (wie auch das Berührtwerden, wenn man etwas Schönes oder Tiefes erlebt) nur möglich ist, weil die Liebe in mir ist. Ich kann nur etwas verlieren und als Verlust erfahren, wenn ich es liebe. Wenn ich liebe und verliere, sterbe ich, aber weil ich liebe, weil mein Herz angegriffen werden kann, bin ich schon auf die Liebe selbst, also auf Gott ausgerichtet. Dadurch kann ich wieder auferstehen. Nichts, was leicht zu haben ist, besitzt einen Wert, schreibt Haruki Murakami. Also muss der Weg zur Auferstehung schwer sein. Der Sinn des Sterbens ist das Auferstehen – das Auferstehen zu etwas Neuem. Sterben und Auferstehen sind ineinander verschlungen.
Ich muss mir daher beim Sterben – so schwer es auch sein mag – nur immer sagen, dass ich gerade zu einem Auferstehen hinsterbe und dass es darum wichtig ist, mein Herz offenzuhalten und dem Schmerz Raum zu geben, die Intensität auszuhalten.
Ich bin noch nicht durch das Dunkel des Karfreitags hindurch. Ich halte die Trauer gerade aus. Eine große Hilfe sind mir in diesen Zeiten wirklich liebevolle Menschen, an die ich mich binde. Das sind meine Eltern, meine Geschwister und all jene Menschen, die schon so lange und intensiv an meiner Seite sind. Sie künden vom Licht am Ende des Tunnels. Ich muss nur die Kraft finden, an ihrer Hand zu diesem Licht zu gehen.