Am Ende des letzten Jahres habe ich ein Buch von Louise Reddemann mit dem Titel ‚Überlebenskunst‘ gelesen. Dort sagt sie, dass es in jedem Leben Erfahrungen, Konflikte, Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen gibt, die schwer zu tragen sind. Ich denke hier an das Bild des Pfeils. Wenn uns etwas in unserem Innersten trifft, sagen wir: „Das hat mich getroffen wie ein Pfeil in meinem Herzen“. „Wie mit einem Pfeil wurde ich durchbohrt.“ Wer kennt das nicht in seinem Leben, dass wir von heute auf morgen mit schwierigen Geschehnissen umgehen müssen und sich das Leben verändert? Die Pfeile des Lebens sind ganz unterschiedlich.
Der Mensch hat aber Widerstandskräfte, Resilienzen, in sich, mit diesen Schwierigkeiten umzugehen, so sagt es Louise Reddemann. In den nächsten Wochen möchte ich mit Ihnen darüber nachdenken, was uns hilft, wenn wir getroffen werden und angeschlagen sind, wenn wir merken, dass wir uns auf unsere eigenen Kräfte besinnen müssen, um die Schwierigkeiten zu bewältigen. Nicht die Belastungen stehen dabei im Vordergrund, sondern die eigenen, persönlichen Kraftquellen, Widerstandskräfte, Resilienzen, die jeder Mensch hat, um schwierige, sogar extrem belastende Erfahrungen zu überleben. Es ist also eine Predigtreihe der Ermutigung in dieser für alle schweren Zeit des Ukraine-Krieges, der Pandemie, der Umweltkatastrophen.
Im 4. Gottesknechtlied von Jesaja taucht das Bild des Durchbohrt-Seins auf, das mir nicht mehr aus dem Kopf geht:
„Siehe, mein Knecht wird Erfolg haben, / er wird sich erheben und erhaben und sehr hoch sein. Wie sich viele über dich entsetzt haben – / so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch, / seine Gestalt war nicht mehr die eines Menschen -, so wird er viele Nationen entsühnen, / Könige schließen vor ihm ihren Mund. Denn was man ihnen noch nie erzählt hat, / das sehen sie nun, was sie niemals hörten, / das erfahren sie jetzt. Wer hat geglaubt, was wir gehört haben? / Der Arm des Herrn – wem wurde er offenbar? Vor seinen Augen wuchs er auf wie ein junger Spross, / wie ein Wurzeltrieb aus trockenem Boden. Er hatte keine schöne und edle Gestalt, / sodass wir ihn anschauen mochten. Er sah nicht so aus, / dass wir Gefallen fanden an ihm. Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, / ein Mann voller Schmerzen, / mit Krankheit vertraut. Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, / war er verachtet; wir schätzten ihn nicht. Aber er hat unsere Krankheit getragen / und unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, / von ihm getroffen und gebeugt. Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Vergehen.“ (Jes 52,13-53,5)
Die neutestamentlichen Schreiber, besonders der Evangelist Matthäus, der um das Jahr 80 n. Chr. an juden-christliche Gemeinden schreibt, hat diese jüdische Tradition aufgenommen und Jesus von Nazareth mit dem Gottesknecht aus dem Buch Jesaja identifiziert. Aus christlicher Sicht dürfen wir uns immer wieder bewusst werden, dass es jemanden in unserem Leben gibt – Jesus von Nazareth – der versteht, was es für uns bedeutet, durchbohrt zu sein. Denn er hat es selbst erlebt. Wenn wir uns ihm anvertrauen, finden wir Segen, Heil und Zuwendung. In der Beziehung zu ihm, in der Stille und im Gebet, dürfen wir erfahren: Da ist einer, der sorgt sich um uns, sein Herz liegt auf unserem Herzen, er leidet mit uns, fühlt unsere Ohnmacht und steht uns bei. Welch ein Geschenk. Welch ein Trost.
Was heißt es für mich: Ich bin durchbohrt? Wie habe ich dieses Durchbohrt-Sein bislang in meinem Leben erfahren? Schülerinnen und Schüler aus meinem Oberstufen-Religionskurs haben sich u.a. folgende Gedanken gemacht:
- Pfeile treffen und durchbohren mich, wenn Krieg ausbricht und andere schlimme Erfahrungen mein Leben bedrohen.
- Pfeile treffen und durchbohren mich, wenn ich einen geliebten Menschen verliere – besonders durch den Tod.
Diese Gedanken wurden noch vor dem Krieg in der Ukraine formuliert. Aber die Schülerinnen und Schüler spüren sehr deutlich, was es bedeutet, einen geliebten Menschen durch Krieg oder den Tod zu verlieren. Sie haben Angst davor. Umso mehr durchbohren die Bilder, die wir gerade aus dem Krieg zu sehen bekommen, unsere Herzen, wenn wir sie an uns heranlassen. Gerade ältere Menschen erinnern sich an eigene Kriegserfahrungen. Was bedeutet es für das eigene Durchbohrt-Sein, zu sehen, dass ein todkrankes Kind in einer Badewanne schlafen muss und keine Medikamente mehr erhält? Was bedeutet es für das eigene Durchbohrt-Sein, eine 60km-lange Schlange Panzer zu sehen, die sich zum Angriff postieren?
- Was bedeutet es für das eigene Durchbohrt-Sein, zu sehen, dass Männer an der Grenze zu Polen ihre Familien loslassen und selbst zurückgehen müssen, um das eigene Land zu verteidigen?
- Was bedeutet es für ein Kind, nicht zu wissen, ob sein Vater wiederkommt?
- Was bedeutet es für das eigene Durchbohrt-Sein, zu spüren, wie viel Gewaltpotential in einem Menschen steckt? Wer hat keine Angst davor, dass bald Atombomben gezündet werden könnten? Wer fühlt sich dann nicht verletzt und durchbohrt?
Der Krieg in der Ukraine macht uns erneut deutlich, dass Verletzungen im Leben da sind. Wie können wir mit diesen Pfeilen des Lebens umgehen?
Neben den Verletzungen, dem Durchbohrt-Sein durch Tod und Krieg, gibt es vielfältige Belastungen in unserem Leben. Auch dazu haben sich meine Schülerinnen und Schüler geäußert:
Was bedeutet es für das eigene Durchbohrt-Sein…
- Wenn ich angelogen werde
- Wenn Forderungen an mich gestellt werden, die ich nicht erfüllen kann,die mich überfordern, die Not und Panik in mir hervorrufen
- Wenn ich auf Unverständnis stoße und das aushalten muss, wenn man mich aufgrund meiner Ansichten sogar belächelt oder auslacht
- Wenn ich ausgegrenzt werde, nicht dazugehören darf und ich mich dann allein und einsam fühle
- Wenn Menschen aus Neid und Eifersucht sich von mir abwenden, mich schlecht und klein machen
- Neidische Menschen können das Glück, die Freude, den Erfolg des anderen nicht ertragen, sie können sich nicht mitfreuen – das tut weh, das ist so enttäuschend
Pfeile treffen und durchbohren mich – an welche Verletzungen erinnern Sie sich in Ihrem Leben?
Louise Reddemann sagt, dass wir unsere eigenen Grenzen und Verletzungen nicht ignorieren dürfen, sondern anschauen müssen. Wir müssen das, was unser Leben verändert hat, wahrnehmen, annehmen und anpacken. Dazu braucht es Wahrhaftigkeit, um den Weg nach vorn zu finden. Das Hören und Wahrnehmen unseres eigenen Körpers ist dabei eine große Hilfe. Er zeigt uns, was wir innerlich fühlen.
Gleichzeitig braucht es Menschen, die empathisch sind, die sich also in die Situation hineinfühlen und nicht sagen: „Ist nicht so schlimm; schau nach vorn!“ Es braucht liebende Menschen, die die Verletzungen und den Heilungsweg mit aushalten.
In schweren Situationen sagen wir oft: „Da hilft nur noch beten“. Warum aber „nur“? Sollte es nicht vielmehr heißen: „Da hilft beten!“? – Denn wie wir uns einem Menschen anvertrauen, so vertrauen wir unser Leben Gott an. Wir kommen vor Gott in unserer ganzen Wahrhaftigkeit, mit unseren Sorgen, mit unserer Angst, aber auch in Zuversicht. Selbst wenn es manchmal schwer ist, hilft gerade diese Zuversicht, den Weg nach vorn zu gehen. Liebende Menschen tragen uns, Gott trägt uns, und das schenkt Zuversicht. Solch eine Zuversicht ist ein wichtiger Antrieb für unser Leben. Mögen uns die ersten Schritte gelingen!
Durchbohrt-Sein
- Fastensonntag
Jes 52,13-53,5