Im Markusevangelium kündigt Jesus seinen Jüngern dreimal an, was er erleiden wird. Es gibt nicht wenige Menschen, die die Not eines anderen nur schwer ertragen, manchmal gar nicht aushalten können. Das Schwere zu tragen, ist immer mühsam, vor allem auch, wenn es liebe Menschen an unserer Seite trifft. Ich begleite seit vielen Jahren Menschen in ihrer Trauer, die sich darüber beklagen, dass man ihnen in der Familie und im Freundeskreis sagt, es sei nun genug mit der Trauer, es sei endlich Zeit für den Blick nach vorn. Doch Trauernde müssen ihrer eigenen Wahrhaftigkeit folgen, brauchen Zeit, um das Traurige in ihrem Leben anzunehmen und zu bewältigen. Dabei sind sie auf Menschen, die mit ihnen gehen, angewiesen.

Genauso muss es Jesus ergangen sein. Stellen Sie sich die Situation vor: Jesus geht mit seinen Jüngern, mit denen er bereits wenigstens ein Jahr verbracht hat, durch die Natur Galiläas nach Kafarnaum, wo er seine Lehre hauptsächlich an die Menschen weitergab. Jesus weiß, was ihn ereilen wird und vertraut sich seinen Jüngern auf dem Weg an. Er erzählt ihnen von seinem Sterben, von seinem Tod und seiner Auferstehung. Er ist sich bewusst, dass die Menschen ihn brutal hinrichten werden, weil die Gewalttätigen den Gewaltlosen nicht ertragen können. Die Liebe, die er gelebt hat, war zu groß. Er war zu warmherzig und zu liebevoll. Er musste sein Leben verlieren, weil er gelebt hat, was seinen Namen ausmacht. Für mich ist es sein schönster Name: Menschensohn. Jesus hat die Menschen geliebt und aufgerichtet. Er hat ganz aus der Liebe des Vaters heraus gelebt. Seine Liebe stieß auf Neid und hat manche Menschen in ihrer Lieblosigkeit in Frage gestellt. Die Mächtigen wussten längst, wie sie aus glühendem Eisen Nägel für seine Kreuzigung schmieden konnten. Ich erinnere mich an das Wort des Propheten Jesaja, das genau den umgekehrten Weg beschreibt: „Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen“ (Jes 2,4). Leider wird das Liebevolle, das Gute, das Segensreiche aber sehr oft zurückgedrängt oder sogar zerstört.

Im Evangelium folgt auf diesen ehrlichen Bericht Jesu ein starker Kontrast, nämlich durch die Beschreibung der Reaktion der Jünger. Markus berichtet, dass sie den Sinn der Worte nicht verstehen. Darum lenken sie sich ab, haben vielleicht sogar Angst und verdrängen die tiefe Bedeutung des Gehörten. Was Jesus sagt, ist unerträglich für sie – auch wenn es bereits das zweite Mal ist, dass Jesus sein Schicksal ihnen gegenüber ankündigt. Er möchte sie mit auf seinen Weg des Leidens nehmen und sie gleichzeitig darauf vorbereiten. Er nimmt sie gewissermaßen an die Hand. Aber die Jünger weichen aus. Sie diskutieren lieber darüber, wer von ihnen der Größte ist. Sie kreisen um sich selbst: Wie komme ich gut durch? Wie kann ich mich größer darstellen? Vielleicht fragen sie sich sogar, wer von ihnen dem Herzen Jesu am nächsten ist. Ich? Oder doch ein anderer? Wer ist der beste Jünger? Dadurch versuchen sie, die eigene Person zu erhöhen und drücken gleichzeitig ihre Angst aus, zu kurz zu kommen. Wie muss Jesus sich gefühlt haben? Während er seinen Jüngern anvertraut, was in seiner Seele ist, nehmen sie Abstand von ihm und schauen auf sich selbst.

Dieser Wettstreit erinnert mich an den Sport, wo ich es immer schade finde, wenn man bei Meisterschaften gar nicht mehr um den dritten Platz spielt. Es zählt nur noch, wer Erster wird. Im Buch „Dienstags bei Morrie“, in dem der Sportreporter Mitch regelmäßig seinen kranken Lehrer Morrie besucht und dabei viel über das Leben lernt, fragt Morrie Mitch rhetorisch: „Wen stört es eigentlich, die Nummer 2 zu sein?“. Haltung deutlich zu machen, ist wichtiger, als stets auf Profit aus zu sein. Noch wichtiger ist es, wie Jesus am Leben der Menschen wirklich teilzunehmen.

Jesus spricht die Jünger auf ihr Verhalten an, denn er spürt natürlich, was in ihnen vorgeht und womit sie sich beschäftigt haben. Die Jünger aber schweigen betreten auf seine Nachfrage. Sie fühlen sich ertappt und sind peinlich berührt. Manchmal braucht man einen Hinweis von außen, um zu verstehen, was sich in der eigenen Seele abspielt. Jesus wird zu ihrem Lehrmeister. Markus schreibt: „Da setzte er sich hin“. Jesus setzt sich wie auf die Kathedra, auf den Lehrstuhl, um die Jünger zu belehren. Um diese Belehrung möglichst deutlich zu machen, redet er nicht nur, sondern macht eine Zeichenhandlung. Er nimmt ein Kind in die Arme und stellt es in die Mitte. Jesus möchte damit sagen: ‚An der Zerbrechlichkeit dieses Kindes, an seinem Bedürfnis nach Liebe und Hilfsbereitschaft, an seinem Vermögen an Phantasie und Staunenskraft möchte ich euch zeigen, was das Leben in der Tiefe ausmacht. Du, Mensch, bist zerbrechlich und kannst nicht jeden Tag aufrecht gehen. Du bist hilfsbedürftig und brauchst den liebenden Menschen an deiner Seite. Du bist gar nicht so stark, wie du nach außen hin oft vorgibst zu sein.‘ Das Kind, das Jesus in die Mitte stellt, fordert seine Jünger auf, einfühlsam und sensibel für den Weg zu sein, den es ihnen aufzeigen kann.

Jesus möchte uns zeigen, dass wir auch als Erwachsene das Kindsein in uns erhalten sollen. Das bedeutet nicht, dass wir nicht im Glauben reifen oder ihn reflektieren sollen. Vielmehr heißt es, dass wir das Staunen nicht verlieren dürfen. Das Leben ist spannend und darf in diesem Sinne empfangen und gelebt werden. Jesus möchte uns sagen, dass wir zu unserer Hilfsbedürftigkeit stehen sollen, gleichzeitig die kindliche Unbeschwertheit nicht aus den Augen verlieren dürfen. Die Freude am Leben und das Verspielte gilt es zu erhalten, statt nur den tierischen Ernst groß zu machen.

Jesus will uns daran erinnern, dass nicht nur wir hilfsbedürftig sind, sondern dass auch die Menschen, mit denen wir unterwegs sind, unsere Hilfe brauchen. Das Kind in der Mitte macht deutlich, dass wir sensibel hinschauen sollen, wo unsere Hilfe und Unterstützung gebraucht werden, wo wir anderen Menschen Leben geben können. „Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts“. Bischof Jacques Gaillot schildert in diesem Buch (Ersterscheinung 1989) seine Erfahrungen und ich habe es in meiner Jugendzeit mit Freude und großer Nachdenklichkeit gelesen.

Jesus hat sich dem Vater ausgeliefert und seinen Geist in die Hände des Vaters gelegt. Auch wir sollen uns ihm wie ein Kind anvertrauen. Es ist für ein Kind existentiell wichtig, dass es seinen Eltern vertrauen kann und dass dieses Vertrauen gestärkt wird. Bei jeder Taufe sage ich, dass man sein Kind niemals genug lieben kann. Man kann diese Liebe in das Herz des Kindes hineinlegen und hoffen, dass diese Liebe bleibt und das Kind trägt. Daraus entsteht Vertrauen. Das lateinische ‚fides‘ heißt nicht nur ‚Glaube‘, sondern auch ‚Vertrauen‘. Beides hängt ganz eng miteinander zusammen. Der Missbrauch in der katholischen Kirche ist daher das Schlimmste, was der Kirche passieren konnte. Er hat die Seelsorge im Mark erschüttert. Vielleicht ist sogar der Grundauftrag der Kirche ein für allemal verloren gegangen, weil das Vertrauen vielleicht niemals mehr zurückgeholt werden kann. Da ist ein hilfloses und wehrloses Kind und man ist beauftragt, die Seele des Kindes zu halten und zu tragen, sie mit Liebe zu füllen. Stattdessen hat man viele Kinder und das Vertrauen, das ihre Eltern in die Kirche gelegt haben, missbraucht. Das wird die Kirche in einen tiefen Abgrund stürzen. Sie muss einen ehrlichen und wahrhaftigen Weg gehen, Strukturen schaffen, die mehr Wahrhaftigkeit ermöglichen und die Kontrolle und die Konsequenzen garantieren, wenn es einen Hinweis auf Missbrauch gibt. Erst daraus kann Neues entstehen.

Wenn ich an die Verletzbarkeit der Kinder denke, die uns anvertraut sind, kommt mir sofort das zarte Lied „Kinder“ von Bettina Wegner in den Sinn: „Sind so kleine Hände / Winzge Finger dran. / Darf man nie drauf schlagen / Die zerbrechen dann… / Sind so kleine Seelen / Offen und ganz frei. / Darf man niemals quälen / Gehn kaputt dabei“, heißt es dort.

„Kinder“ von Bettina Wegner

Gern singe ich Ihnen das Lied vor.

Das Kind in der Mitte macht deutlich, dass Jesus die Wahrheit geliebt und gelebt hat. Das zeigt sich daran, dass er gesagt hat, dass dieses Kind von Liebe erfüllt werden soll. Dafür hat er gelebt. Mögen wir uns von seiner Liebe anstecken lassen und immer wieder Wege des Vertrauens finden. Mögen wir einen Weg der Wahrhaftigkeit gehen. Mögen wir gut hinschauen, wenn dieses Vertrauen missbraucht wird, wenn Menschen in ihrem Leben zerstört werden, wenn sie missbraucht werden. Mögen wir wachsam sein in den Fällen, in denen die Liebe zurückgedrängt wird. Das Kind in der Mitte gehört zum Zentrum der jesuanischen Botschaft. Wenn dieses Zentrum zerstört wird, wie es gerade der Fall ist, ist es längst fällig, dass etwas Neues geschieht. Segnen wir unsere Kinder, nehmen wir sie liebevoll und wahrhaftig in unsere Arme und denken wir selbst an die Liebe zurück, die wir in unserer Kindheit erfahren haben. Möge sie uns durch die Zeit tragen und uns zu Menschen machen, die vertrauensvoll in die Liebe Jesu hineingehen. Menschen legen ihr Leben in unsere Hände. Gehen wir behutsam damit um.

Ein Kind in der Mitte

25. Sonntag im Jahreskreis

Mk 9,30-37
Euer / Ihr Pastor

Thomas Laufmöller

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