Wenn man das heutige Evangelium dagegenstellt, wird man auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Im Grunde berichtet Matthäus von der aktuellen Situation der Gemeinden um 70 n. Chr., deren Problematik er in die Zeit Jesu zurückversetzt. Wir können also nicht sagen, dass es sich um die Worte Jesu handelt, sondern müssen immer den Kontext der Entstehung beachten. Als der Tempel zerstört wurde, sind die frühen Christen in einen Konflikt mit dem Judentum, vor allem mit dem Synedrion, der jüdischen Gerichtsbarkeit, geraten. Hierbei handelte es sich um die Institution des Judentums, also um die Machtträger. Als die Römer den jüdischen Tempel 70 n. Chr. zerstören, macht das Synedrion den Christen den Vorwurf, sie hätten nicht gegen die Römer mitgekämpft, sondern sich nach Norden, nach Pella, zurückgezogen. Dieser Rückzug ist mit der Bergpredigt zu erklären. „Selig, die keine Gewalt anwenden“, heißt es in Mt 5,5. Die Botschaft Jesu ist eine Botschaft des Friedens. Die ersten Christen haben sich dieses Wort zu Herzen genommen. Gewalt mit Gewalt zu bekämpfen, führt meist nicht zum Frieden, sondern zu noch mehr Gewalt. Darum haben sich die ersten Christen nicht an der Verteidigung des Tempels beteiligt. Die Konsequenz daraus war, dass die folgende Spaltung der Juden und der Christen Familien entzweit hat. Nicht nur haben Familienmitglieder sich voneinander getrennt, sondern sich sogar gegenseitig getötet. Das ist aus der ursprünglichen Gewaltlosigkeit geworden.
Wo finden wir hier die Herberge der Humanität, die Herberge der Harmonie, die die Krippe wesentlich war? Jesus kommt voller Sanftmut in diese Welt und verkündet eine Botschaft des absoluten Friedens. Er ist gütig und liebevoll. Natürlich hat er sich auch für die Gerechtigkeit eingesetzt, aber immer gepaart mit Barmherzigkeit. Jesus hat diese Welt wahrlich auf den Kopf gestellt bzw. wieder auf die Füße, wie Franz Kamphaus es formuliert. Die Mächtigen der Welt konnten das damals nicht ertragen und können es immer noch nicht. Jesus ist jemand, der ihre Macht mit seiner Liebe infrage stellt. Er stellt das System ihrer Institution infrage. Für Jesus waren die Regeln des Systems zweitrangig. Entscheidend war für ihn, aus der konkreten Situation und aus der Liebe zum Vater heraus zu leben, dies den Menschen zu verkünden und diese Liebe für sie erfahrbar und spürbar werden zu lassen. Jesus hat sich einen neuen Blick auf die Welt gewünscht und diesen gelebt.
Die Mächtigen haben in dieser Weltsicht ein Problem gesehen, als die Botschaft Jesu auf Anhänger stieß, die ebenfalls diesen Weg der Liebe gehen und sich dafür von den Mächtigen lösen wollten. Sie machten sich plötzlich angstfrei auf, dem Weg des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe zu folgen. Christsein heißt, „Hinter Jesus her“ zu gehen, um einen Buchtitel von Franz Kamphaus aufzunehmen. Das bedeutet, nicht nur Jesus als Person zu folgen, sondern seine Botschaft leben zu wollen. Weil Menschen die Sehnsucht nach dieser Liebe in sich tragen, werden sie von dieser Botschaft angezogen. In Jesus, dessen Wesen gewissermaßen diese Botschaft verkörpert, finden sie einen Ankerpunkt, von dem aus sie selbst den Weg der Liebe suchen und gehen können.
So wie sich die Vision der Hirten bei ihrer Ankunft an der Krippe erfüllt, so wird bei jenen, die der Botschaft Jesu folgen, aus ihrem Heilstraum eine Heilswirklichkeit. Was sie in ihrem Gefühl haben, wird zur Wahrheit und ihre Sehnsucht wird gestillt. Wer dies in seinem Herzen entdeckt, kann gar nicht mehr anders, als einen neuen Weg zu suchen und zu gehen.
Die Brutalität des Lebens besteht darin, dass Menschen, die diesen Weg gehen, die Mächtigen provozieren, weil diese davon überzeugt sind, das Wissen zu besitzen. Sie sehen ihre Macht in dem Augenblick schwinden, in dem Menschen sich von ihrer Ordnung lösen und frei leben, sich trauen, Konventionen, die lähmen, infrage zu stellen. – Solche Menschen hören nicht mehr länger blind auf das, was ihnen vorgegeben wird, egal in welchem System sie sich bewegen – ob in der Gesellschaft, in der Wirtschaft, im Glauben. Sie leben stattdessen, was sie als Wahrheit erkannt haben. Hier wird deutlich, was christliche Freiheit bedeutet, was es heißt, den Weg des Glaubens in dieser Weise zu gehen. Menschen können angstfrei und losgelöst von den Mächtigen gehen, wenn ihr Vertrauen auf Gott sie trägt und ihnen versichert, dass der Weg der Liebe der richtige Weg ist.
Jesus möchte uns einladen, zuerst in das eigene Herz hineinzuhören und nachzuspüren, was dort klingt. Er möchte, dass wir die Liebe des Vaters in das eigene Herz lassen und unseren Weg mit dieser Konsequenz gehen – in Treue, in Liebe und in Wahrhaftigkeit. Wahrhaftig können wir nur das leben, was in uns ist und was wir selbst in unserem Herzen gespürt und erkannt haben. Von Eugen Drewermann gibt es ein wunderbares Bild. Er beschreibt die Freiheit wie eine Kastanie, die zu Boden fällt, aufbricht und ihre Dornenschale verliert. Sie ist nun frei, losgelöst von der Enge der dornenreichen Schale, aber auch den Gefahren des Lebens ausgesetzt.
Institutionen können es dem Menschen manchmal schwer machen, frei dem eigenen Herzen zu folgen. Aber am Ende des Lebens wird der Mensch von Gott gefragt:
- Bist du der Liebe treu geblieben?
- Hast du die Liebe gelebt, die Gott in dich hineingelegt hat?
In diesen Tagen hat eine Pastoralreferentin zu ihrer Vision und ihrer Wahrheit gestanden. In einer Predigt hat sie bekannt, dass sie seit 15 Jahren mit einer Frau zusammen ist und dies nicht länger verheimlichen möchte. Hören Sie sich ihre ehrlichen und mutigen Worte in ihrer letzten Predigt an (ab Minute 20). Es lohnt sich. Es macht nachdenklich. Es ist aufschlussreich.
Wenn man in die Kirchengeschichte schaut, so finden sich immer wieder Beispiele mutiger Menschen, die ihren Lebens- und Glaubensweg wahrhaftig gehen. Ihr Leben imponiert und inspiriert bis heute, weil sie sich getraut haben aufzustehen. Ein frühes Beispiel ist der hl. Stephanus, der trotz seiner Bedrängnis, in die er vor dem Hohen Rat gerät, zu seinem Glauben steht und sich öffentlich dafür einsetzt, aufzustehen und die Wahrheit im eigenen Inneren zu suchen. Er wusste, dass dies provoziert, aber er ist sich und seinem Gott dennoch treu geblieben. So musste auch Jesus sterben, weil seine Liebe provoziert hat und Konsequenzen hatte. Und doch folgen immer noch viele Menschen seiner Botschaft der Liebe aus freiem Herzen nach.
Mögen auch wir – in der Freiheit der Kinder Gottes – unseren Weg des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe gehen. Dieser Weg lohnt sich, denn er führt zum Leben.
Betend und vertrauend schauen wir auf das Glaubenszeugnis des hl. Stephanus und rufen zu Gott:
Für alle, die deine Liebe durch die täglichen Dienste der Nächstenliebe bezeugen.
Du Gott der Liebe – wir bitten dich, erhöre uns.
Für alle, die gefangen sind im Teufelskreis von Hass und Streit.
Du Gott der Versöhnung – wir bitten dich, erhöre uns.
Für alle, die Opfer von Gewalt geworden sind.
Du Gott der Gewaltlosigkeit – wir bitten dich, erhöre uns.
Für alle, die im Unfrieden und unversöhnt leben und leben müssen.
Du Gott des Friedens – wir bitten dich, erhöre uns.
Für alle, die nur um sich selbst kreisen.
Du Gott der Gemeinschaft – wir bitten dich, erhöre uns.
Für alle, die auf dich vertrauen und schon hier und jetzt den Himmel offen sehen.
Du Gott der Zukunft – wir bitten dich, erhöre uns.
So bitten wir dich in Christus, unserem Herrn und Erlöser. Amen.