Biblische Worte richten sich immer persönlich an den einzelnen Menschen. Auf ihn geht Jesus zu und sagt ihm das Wort des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe gewissermaßen ins Gesicht und ins Herz. Jeder Einzelne muss schauen, was ihm dieses Wort bedeutet und wie er es im eigenen Leben umsetzen kann. Was entspricht seinem Naturell? Wozu ist er in der Lage? Was kann er wirklich schaffen?

Im Zentrum des heutigen Evangeliums steht die Vergebung. „Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er sich gegen mich versündigt? Siebenmal?“, fragt Petrus. Und Jesus antwortet ihm: „Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal“. (Mt 18,21f) Damit möchte Jesus sagen, dass man seinem Bruder immer vergeben soll.

Neulich kam ein Mann nach dem Gottesdienst zu mir und fragte mich, ob man Putin für das, was er getan hat und gerade tut, vergeben kann. Ja, lesen wir: siebenundsiebzigmal. Aber ist das nicht eine Überforderung für den Menschen? Oder ist es nur eine Herausforderung? Das Wort Jesu fordert den Menschen immer heraus, und manchmal überfordert es ihn. Das gilt auch für die große Herausforderung der Feindesliebe, von der wir in der Bergpredigt lesen. Was versteht Jesus darunter? Das Wesentliche der Feindesliebe liegt in der Entfeindung des Feindes. Es geht nicht darum, dem Feind um den Hals zu fallen und ihn auf dieselbe Weise zu lieben wie nahestehende Menschen. Entfeindung ist trotzdem kein einfacher Weg. In diesen Tagen spüren wir das besonders. Fast aussichtslos erscheint uns der Versuch, den Feind zu entfeinden und Frieden zu schaffen, wenn das Gegenüber in seiner gewaltsamen Strategie verharrt. Wie gehen wir als Christen vor diesem Hintergrund mit den Worten „Selig, die keine Gewalt anwenden“ (Mt 5,5) um? Dürfen wir dagegenhalten, wenn wir gewaltsam bedroht werden?

In der Friedensschule erlebe ich diese Fragen gerade sehr nah. Acht Kinder, die aus der Ukraine geflohen sind, möchten wir in unsere Schulgemeinschaft integrieren. Wir sagen ihnen zu, dass sie Stifte und einen Rucksack bekommen, dass wir ihnen eine Schulbildung ermöglichen, dass sie bei uns essen können. Viel tiefer reicht es aber, wenn wir ihnen versichern, dass sie nach ihren Gewalterfahrungen nun durchatmen können, Zeit geschenkt bekommen, die Liebe der Menschen erfahren dürfen. Können wir ihnen hier eine neue Heimat aufbauen?

„Selig, die keine Gewalt anwenden“, heißt es also – und Deutschland möchte 100 Milliarden Euro für Auf- und Ausrüstung aufwenden. Seit Jahren müssen wir für jeden Euro kämpfen, wenn es darum geht, unsere Natur zu retten. Wie können auf der anderen Seite plötzlich 100 Milliarden Euro für Rüstung ermöglicht werden? Vielleicht ist die Angst so groß, dass die aktuelle Bedrohung als wichtiger eingestuft wird als die langfristige Bedrohung durch die Klimakrise. Wenn wir uns vorstellen, dass russische Raketen auf das Nato-Gebiet fallen, können wir mit der drohenden Gewalt und unseren Ängsten nur schlecht umgehen. Natürlich dürfen wir die Situation nicht verharmlosen. Aber Angst verengt immer den Blickwinkel, verliert dadurch andere Möglichkeiten der Konfliktlösung aus dem Blick.

Das tägliche Erleben der Schülerinnen und Schüler macht mir deutlich, dass sie neben einer realistischen Bewertung der Gefahrensituation auch Zeichen der Hoffnung brauchen. Manchmal müssen wir diese Zeichen mühsam zusammen suchen. Denn die Bilder aus der Ukraine sind allgegenwärtig. Die Jugendlichen bekommen mit, wie ein Mann seine Frau und seine Kinder an der Grenze abgeben muss, damit sie in den sicheren Westen fliehen können – während er Richtung Osten an die Front muss. Die Schülerinnen und Schüler tragen all das in ihren Herzen. Den Flüchtlingskindern an unserer Schule lastet noch dazu das Dröhnen der Bomben auf ihrer Seele. Grenzenlose Angst steckt tief in ihnen. Sie atmen schon auf, wenn sie den Bombenlärm hier aktuell nicht hören müssen.

Ich selbst bin natürlich auch ratlos und ohnmächtig. Auf der anderen Seite bin ich mir sicher, dass es zu einer Eskalation kommt, wenn man Gewalt mit Gewalt begegnet. Feindesliebe meint aber, nicht noch zu einer Eskalation beizutragen. Den Feind zu entfeinden, könnte dann in diesem Zusammenhang bedeuten, dem Feind aus dem Weg zu gehen, wo es nur möglich ist, weil es zwischen uns und ihm keine Begegnung geben kann, die friedlich auszugehen vermag. Es könnte auch heißen, aus der Konfliktsituation den Druck herauszunehmen, damit der Feind langsam vom Feind zum Mitmenschen werden kann. Natürlich ist das schwer, wenn wir selbst so viel Druck und Machtgelüste erfahren müssen, wie es aktuell der Fall ist. Wer wagt hier den ersten Schritt der Entfeindung? Hätten wir schon viel früher damit beginnen müssen, das Feindbild abzubauen?

Ich mag das Bild, auf dem ein Mann Blumen in den Lauf von Gewehren steckt. Es macht deutlich, was christliche Nachfolge heißt. Ein einzelner Mensch steht mutig auf und setzt ein Zeichen des Friedens und der Liebe. Ich sehe den Mut, aber auch die Gefahr, die der Mann auf sich nimmt. Haben wir es aber nicht selbst 1989 erlebt, dass Blumen und Gebete unser Land und die Menschen in ihm wieder zusammengefügt haben? Kleine Zeichen der Liebe können trotz aller Gewalt zum Frieden führen.

Ich habe Angst, dass wir es nicht schaffen, unser aktuelles feindliches Gegenüber zu entfeinden, weil zu viel Hass und Gewalt in seinem Herzen sind. Dennoch möchte ich niemals aufgeben, für den Frieden zu beten – für Glaube, Hoffnung und Liebe. Das wird einen langen Atem brauchen und sicherlich viel Mut. Bei allem Dunkel braucht es Zuversicht.

Ich habe heute mit Schülerinnen und Schülern einen ganzen Tag über die Taufe gesprochen. Wir haben ein Bild der Osternacht zusammen betrachtet: Die Menschen sind von Dunkelheit umgeben. Alles scheint aussichtslos – nirgendwo ein Licht. Dann wird das Licht Jesu Christi mit der Osterkerze in die dunkle Kirche hineingeführt. Der Blick der Menschen fällt genau auf dieses Licht, weil sie sich danach sehnen.

Wir können darum beten, dass Gott die Herzen der Menschen weit öffnet, damit sie ihre Sehnsucht nach Licht und Liebe erkennen und danach leben. Wir können versuchen, selbst immer wieder den Weg der Versöhnung zu gehen. Jesus Christus hat ein Herz, das unendlich weit ist. Er schafft es, siebenundsiebzigmal zu verzeihen. Wenn wir uns seiner Weisung entgegenstrecken und uns für seine Liebe öffnen, dann kommen auch wir einen Schritt weiter in Richtung Frieden. Mögen wir den Mut dazu haben und niemals das Vertrauen darin verlieren, dass die Liebe in jedem Menschen ist, auch wenn sie manchmal nicht zum Vorschein kommt. Es ist gerade mehr denn je wichtig, für diese Liebe einzutreten und Versöhnung zu leben.

Friedensimpulse – Über die Entfeindung des Feindes

Gottesdienst für den Frieden
Friedensimpulse – Über die Entfeindung des Feindes

Mt 18,21-35

Euer / Ihr Pastor

Thomas Laufmöller

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