Wie geht der Mensch mit Fragen um? In der Schule gehen manchmal die Finger schon hoch, wenn die Frage noch gar nicht zu Ende gestellt ist. Fragen können direkt beantwortet werden oder man überlegt zuerst, lässt die Frage auf sich zukommen, bevor man auf sie antwortet. Oder man kommt zu dem Schluss, dass man sie nicht beantworten kann und will. Der Philosoph Sokrates hat Menschen täglich in Fragen verwickelt, um gemeinsam mit ihnen der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Natürlich ist seinen Dialogpartnern dabei oft deutlich geworden, dass sie bislang nicht selten einem irrigen Vorurteil erlegen waren. Fragen fordern heraus, weil man durch sie Liebgewordenes neu überdenken muss. Sie sind spannend und machen nachdenklich.
Eine solche Frage finden wir im heutigen Evangelium. Jesus fängt pädagogisch vorsichtig an. Er fragt zuerst einmal allgemein: „Für wen halten die Menschen mich?“ Es ist leicht, auf solch eine Frage zu antworten, weil man dabei nichts von sich selbst preisgeben muss. Darum kommen die Jünger auch schnell auf allerlei Antworten: Die Menschen halten Jesus für Johannes, den Täufer, für Elija, für einen Propheten. Selbst Position zu beziehen, ist schwieriger. Das geht tiefer; das ist persönlicher. Jesus fragt seine Jünger trotzdem: „Für wen haltet ihr mich?“ Die Jünger müssen über diese Frage nachdenken.
Als ich mir über dieses Evangelium Gedanken gemacht habe, ist mir aufgegangen, dass man dieser Frage mit einer Gegenfrage begegnen könnte. So hat es Jesus selbst viele Male gemacht. Versetzen Sie sich in die Lage der damaligen Jünger und geben die Frage an Jesus zurück: ‚Für wen hältst du uns?‘ und ‚Wie schaust du auf unser Leben? Wie schaust du auf deine Schöpfung? Wie schaust du auf das Miteinander der Menschen? Wie schaust du auf mich als Person?‘ Die Antwort von Jesus wäre eindeutig: ‚Ihr seid meine geliebten Kinder und unendlich kostbar‘. Als Jesus nämlich selbst getauft wurde, öffnete sich der Himmel und der Vater sagte zu ihm: „Du bist mein geliebter Sohn“. Auf den Menschen übertragen, heißt das, dass jeder Mensch Gottes geliebtes Kind ist. Er ist unendlich geliebt, gestützt und gehalten. Er kann niemals aus der Liebe Gottes herausfallen. Als Abbild Gottes ist jeder ein Funken der göttlichen Ewigkeit. Dieser Funke der göttlichen Liebe ist im Menschen. Das bedeutet, dass Gott es uns zutraut, seine Liebe zu leben und zu bezeugen – beispielsweise durch Mitgefühl. Dieses Vertrauen Gottes beinhaltet eine ungeheure Ermutigung. Dieser starke Zuspruch schenkt denjenigen Mut, die dies in ihrem Herzen annehmen können. Er motiviert sie, lädt sie ein, richtet sie auf.
Natürlich stellt sich die Frage, ob wir dem, was in uns ist, was Gott an Liebe in uns hat hineinfließen lassen, gerecht werden. Wenn wir ehrlich sind, stoßen wir schnell an die eigenen Grenzen. Oft sind wir lieblos und bleiben selbst hinter den eigenen Ansprüchen zurück, wenn wir Menschen begegnen. Zu hundert Prozent zu lieben, würde unser Menschsein übersteigen. Menschsein bedeutet nämlich auch, die eigenen Grenzen zu akzeptieren und daran zu arbeiten – ansonsten würden wir uns gottgleich machen wollen. Christsein heißt, dass wir uns nach der Liebe Gottes, die grenzenlos ist, ausrichten. Dies zu wollen, ist entscheidend, auch wenn wir immer wieder dahinter zurückbleiben. Es ist notwendig, innezuhalten, zu reflektieren, das eigene Herz nach dem Weg der Liebe zu fragen. Wenn wir die Wahrheit über unser Leben erfahren möchten, die Wahrheit des Herzens sozusagen zu ermitteln versuchen, schenkt unser Herz die beste Auskunft. Jeder Priester hat gewöhnlich einen geistlichen Begleiter, der liebend mitgeht und mit ihm zusammen einfühlsam in sein Herz schaut. Unter solchen Bedingungen macht es Freude, über das eigene Leben nachzudenken. Das habe ich bei Freunden in der Dominikanischen Republik gelernt. Für sie gehört das gemeinsame Reflektieren, das Lesen in der Bibel, sich anschließend darüber auszutauschen und zu beten zum Tagesanfang. Dort läuft die Zeit langsamer – es steht nicht nur das Geschäft im Vordergrund oder die Arbeit oder die Leistung, sondern das Innehalten – man taucht dadurch tiefer in das Leben ein.
So hat bereits Benedikt im 6. Jh. ‚ora et labora‘ nebeneinander gestellt. Menschen sollen nicht nur arbeiten, sondern brauchen gleichzeitig Mußezeiten, in denen sie über ihre Beziehungen zu anderen Menschen und zu Gott nachdenken können.
Meine Schülerinnen und Schüler sagen mir oft, dass jeder Mensch glauben soll, was er will. Das funktioniert aber nicht, wenn man als Christ glauben möchte. Denn an Christus zu glauben, bedeutet, ihm zu glauben – dass er die Liebe Gottes in die Welt gebracht hat. Darum mag ich den Buchtitel „Hinter Jesus her“ von Franz Kamphaus als Beschreibung des christlichen Glaubens so gern. An ihn zu glauben, bedeutet, der Dynamik seiner Person, seiner Lebensphilosophie zu folgen. Das schließt mit ein, die Macht der Liebe, statt die Liebe zur Macht groß zu machen. Christus wird oft als der Pantokrator dargestellt, der über die Welt herrscht. Petrus gibt auf die Frage Jesu, „Wofür haltet ihr mich?“, die Antwort: „Für den Messias“. Damit ist der König der Juden gemeint, der von Gott eingesetzt wird, um über sein ewiges Reich zu herrschen. Ich bevorzuge die Selbstbeschreibung Jesu einige Verse später: „Menschensohn“. Er ist der Sohn der Menschen, der die Schöpfung in den Blick nimmt, der nah am Leben und am Herzen der Menschen sein möchte. Ihn nehmen wir uns als diejenigen, die ihm nachfolgen, zum Vorbild und Wegweiser. Auch wenn wir wissen, dass wir ihm nie völlig gleich werden, sind wir damit unweigerlich auf seinem Weg: dem Weg der Liebe.
Hier spürt man, was Nachfolge bedeutet. Warum ist sie so schwer? Warum fallen wir immer wieder zurück? Eugen Drewermann vermutet, dass es sich oftmals um eine Folge unserer Erziehung handelt. Es prägt ein Kind, wenn ihm über lange Zeit gesagt wird, dass es Leistung bringen soll. In der Kirche wurden die Menschen über Jahrhunderte durch und mit Angst erzogen. Zum Leben hat es sie nicht geführt; vom Glauben hat es sie eher entfernt. Der sexuelle Missbrauch, der den Abgrund dieser Erziehung im kirchlichen Rahmen am tiefsten und deutlichsten macht, hat menschliches Leben zerstört und muss unbedingt restlos aufgearbeitet werden. Dazu muss das System in Frage gestellt und erneuert werden. Die Kirche ist es der Liebe Jesu schuldig, die eigene Schuld offenzulegen und zu kontrollieren, da die missbrauchten Menschen unendlich gelitten haben und noch immer leiden.
Ein weiterer Grund dafür, dass wir auf unserem Weg der Nachfolge an unsere Grenzen stoßen, liegt darin, dass wir uns zu oft fragen, was uns das, was wir tun, bringt. Wer sich über eine Angelegenheit fragt, was ihm diese bringt, fragt nicht nach Gott, sondern nach sich selbst. Er schaut nur darauf, was er davon hat, was er daraus ziehen kann. Die eigentliche Frage in Bezug auf Gott heißt aber, wie man ihm dienen kann und wie man die Botschaft der Liebe weitergeben kann. Letztlich hat auch unsere Gesellschaft den Menschen abgewöhnt, zu lieben und einfühlsam zu sein.
Das bringt mich zur meiner Ursprungsfrage zurück: Für wen hält Jesus uns? Wir sind Gottes geliebte Kinder und werden aus seiner Liebe niemals herausfallen. Die Pädagogik Jesu lautet nicht: ‚Du darfst nicht‘ und ‚Du musst‘, sondern ‚Du bist unendlich geliebt‘. Er richtet die Menschen auf und versichert ihnen, dass sie den Kern der göttlichen Liebe bereits im Herzen haben. Er sagt ihnen seine Hilfe zu, damit sie diesen Funken immer wieder entdecken und größer machen. Wer dies annehmen und in seinem Herzen tragen kann, wird auch Jesus besser verstehen. Er wird auf die Frage Jesu, für wen wir ihn halten, besser und mit Freude und Dankbarkeit antworten können: ‚Ich halte dich für denjenigen, der die Liebe in die Welt getragen hat. Denn ich habe es gespürt. Es ist für mich ein Geschenk und eine Gnade, dass ich glauben darf. Du gibst meinem Leben Halt und Sinn.‘ Wer das im Herzen fühlt, wird anders leben und handeln.
Ich wünsche uns, dass wir immer hinter Jesus hergehen und dass wir den Menschen liebevoll, gerecht und barmherzig begegnen. Ich bin sicher, dass die Welt dadurch liebevoller und sowohl uns als auch den anderen Menschen zum Segen wird.
Für wen hält Jesus uns?
24. Sonntag im Jahreskreis
Mk 8,27-31