Wenn wir danach gefragt werden, was wir uns wünschen, so werden wir in den meisten Fällen wahrscheinlich viele Wünsche formulieren. Jemand wie Bartimäus, von dem das heutige Evangelium handelt, hat hingegen nur einen Wunsch: er möchte wieder sehen können. Ihm ist etwas, was existentiell für den Menschen ist, nämlich aus und mit allen Sinnen zu leben, nicht mehr möglich. Vor Jesus äußert Bartimäus also, wonach er sich wirklich sehnt.

Eine Woche vor den Herbstferien hatten wir in der Friedensschule unsere sogenannte „Projektwoche“. Mit einer Gruppe Jugendlicher habe ich geschaut, wo Menschen mit Einschränkungen auf die Schwierigkeiten des Alltags stoßen. Die Jugendlichen durften beispielsweise selbst erfahren, wie es ist, wenn ihnen die Augen verbunden werden und sie nicht mehr sehen können. Sie mussten an die Hand genommen und durch die Friedensschule geführt werden. Viele Jahre kennen sie das Gebäude und doch wurde es von ihnen völlig anders wahrgenommen, als sie nicht mehr sehen konnten und auf die Hilfe anderer angewiesen waren. Ebenso fremd war die Erfahrung, mit Schallgerät und Kopfhörern durch das Gebäude zu laufen. Die Jugendlichen konnten selbst spüren, was es für die Kommunikation mit anderen Menschen bedeutet, nicht hören zu können. Es waren tiefe Erfahrungen, die gezeigt haben, wie wichtig die eigenen Sinne sind. Mit ihnen lebt und orientiert man sich. Aus dieser Perspektive wird sofort verständlich, warum Bartimäus nur diesen einen Wunsch hat.

Stellen Sie sich diesen armen Bettler vor Jericho vor: wie er an einer Ecke auf der Straße sitzt. Er ist allein dort; wahrscheinlich ist er nicht mehr gepflegt; er ist hilfsbedürftig. Vermutlich bekommt er von den Reichen Almosen. Er lebt also in einer Abhängigkeit, in der er als Bettler wahrgenommen und versorgt wird. Ich könnte mir vorstellen, dass Bartimäus sich besonders durch diese Abhängigkeit aus der normalen Gesellschaft ausgestoßen fühlt. Er befindet sich in einer traurigen Lebenssituation, weil er nicht mehr so leben kann, wie er es gern möchte. Vielleicht muss er sich von den anderen Menschen auch anhören, dass er selbst schuld an seiner Situation ist. Krankheiten wurden damals oft als Strafen Gottes betrachtet. Den Vorwurf zu bekommen, dass man nur darum als blinder Bettler auf der Straße lebt, weil man gesündigt hat, drückt einen Menschen noch tiefer in die Traurigkeit.

Als Jesus an ihm vorbeigeht, dreht sich die Situation. Bartimäus erkennt, dass jemand kommt, der ihm wirklich helfen und ihm einen neuen Blick auf das Leben geben kann. Er spürt, dass Jesus jemand ist, der ihm keine Almosen von oben herab zuwirft, sondern der ihn wirklich stärkt und aufrichtet. Darum steht Bartimäus auf. Er bäumt sich gewissermaßen gegen sein bis dahin noch aussichtslos erscheinendes Schicksal auf und ruft, ja, schreit sogar, er fleht Jesus an: „Hab Erbarmen mit mir“.

Dieses ungewöhnliche Verhalten eines Bettlers macht viele aus der Menschenmenge, die Jesus begleitet, ärgerlich. Sie versuchen, ihn wieder herunterzudrücken, ihn klein zu halten. Was fällt diesem Bettler ein, Jesus um Erbarmen zu bitten? Schließlich bekommt er bereits genug Unterstützung. Wie kann jemand wie Bartimäus mit Jesus in Verbindung treten wollen – so unansehnlich, wie er ist? Seine Unansehnlichkeit soll er nicht nach außen tragen und präsentieren, erst recht nicht vor dem Messias. Vielmehr sollte er sich schämen. Aber Bartimäus ist lästig und wiederholt seinen Ruf um Erbarmen. Dadurch fällt er aus der Reihe. Man könnte auch sagen, dass er aus der Ordnung fällt. Die Menge ist aber nur so lange bereit, ihn zu unterstützen, wie er der Ordnung gehorcht. Er soll sich nicht so wichtig nehmen. Schließlich ist er nur ein Bettler. Er hat nicht das Recht, sich derart zu exponieren.

Bartimäus steht ständig unter den Blicken der anderen, auch wenn er selbst nichts sieht. Diejenigen, die ihm Almosen spenden, haben Macht über ihn, weil sie ihre Unterstützung jederzeit entziehen können. Als blinder Bettler, der auf diese Hilfe angewiesen ist und sich so verhalten muss, dass er weiterhin unterstützt wird, lebt Bartimäus in Ohnmacht. Er muss die Rolle, die ihm zugewiesen wird, für sich selbst übernehmen und denkt wahrscheinlich:

‚Ich bin, wie die anderen mich sehen‘. Dazu passt sein Name. ‚Bartimäus‘ bedeutet ‚der Sohn des Timäus‘. Einen eigenen Namen hat der Bettler also gar nicht. Er ist keine wirkliche Person mit einer eigenen Identität. Natürlich fehlt ihm daher das Selbstbewusstsein, denn in den Augen der anderen hat er kein Selbst. Sie entwerten ihn und er fühlt sich dadurch wertlos. Macht und Ohnmacht stehen einander gegenüber.

Und doch verliert Bartimäus in Anwesenheit Jesu jede Scham, die ihm beigebracht wurde. Er verliert jede Angst vor den Konsequenzen und springt auf. Damit widersetzt er sich der Ordnung der Gesellschaft, bricht sie auf und befreit sich von den Fesseln der Gewohnheit. Er schaut auf sich, auf sein Leben und will leben. Gleichzeitig spürt er, dass Jesus, der an ihm vorbeigeht, diese Sehnsucht nach Leben erkennt. Es gibt ein wunderbares Wort im Johannes-Evangelium, wo Jesus sagt: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10).

Woher nimmt Bartimäus so plötzlich diese Kraft? Die entscheidende Quelle ist im Vertrauen zu finden, das der Bettler Jesus entgegenbringt. Bisher hat er sich von den anderen anschauen lassen. Nun schaut er selbst in sein Leben hinein. Er übernimmt selbst Verantwortung. Im Gottvertrauen, das er in der Begegnung mit Jesus spürt, entdeckt er sein eigenes Ich. Er findet Selbstvertrauen und protestiert gegen den von außen kommenden Zwang, ruhig zu bleiben. Fortan wird er sich nicht mehr den Mund verbieten und erniedrigen lassen. Darum geht er in seiner ganzen Unansehnlichkeit auf Jesus zu.

Jesus nimmt die Schreie des Bartimäus wahr und schaut ihn mit liebenden Augen an. Es kommt zu einer Begegnung des Heils, die das ganze Leben des Bettlers verändert. Jesus fragt ihn nach seiner Sehnsucht, obwohl er diese kennt. Jesus möchte, dass Bartimäus seine Sehnsucht selbst ausspricht und formuliert, um in seiner Persönlichkeit gestärkt zu werden. Bartimäus spürt, dass er sich mit dieser Sehnsucht an Jesus wenden kann. Das richtet ihn auf. Gottvertrauen ist Selbstvertrauen. Hier ist der Kern dieses Evangeliums zu finden. Aus geschenkter Liebe entsteht ein neuer Blick auf das Leben, der Mut macht und Zukunft schenkt.

Was wäre geschehen, wenn Bartimäus gehorsam geblieben wäre? Dann wäre er an der Ecke sitzen geblieben. Wenn er nur darauf gehört hätte, was die Mächtigen für ihn als angemessene Rolle vorgesehen hatten, wäre er in seinem Elend stecken geblieben. Weil er aber ungehorsam ist, weil er sein Gottvertrauen in Selbstvertrauen umsetzt und spürt, dass jemand ihm mit seiner Liebe die Augen öffnen möchte, darum findet er zum Leben. Er kann aufrecht, selbstbewusst und liebevoll seinen Weg mit diesem Gottvertrauen gehen.

Jesus möchte auch uns die Augen öffnen – Augen für das Leben, Augen für die Liebe. Wie wunderbar wäre es, wenn wir solche Erfahrungen, wie Bartimäus sie gemacht hat, immer wieder selbst erleben könnten. Sehe ich mich? Sehe ich mich, wie ich bin? Kann ich mich annehmen, wie ich bin? Vertraue ich darauf, dass Gott mich liebend anschaut, so dass ich mit Mut und Selbstvertrauen aufstehen kann, um meinem Leben entgegenzutreten? Du, Herr, bist das Licht des Lebens und öffnest mein Herz, meine inneren Augen für Deine Liebe. Damit kann ich meinen Weg gehen. Damit finde ich zum Licht und zum Leben.

„Guter Gott,

ich möchte wachsen in der Liebe und im Vertrauen zu Dir,
denn Du stärkst mich in meiner Persönlichkeit.
Vor Dir und mit Dir kann ich wirklich der sein, der ich bin.
Lass mich im Blick auf Dich die Wahrheit meines Lebens entdecken
und daraus leben und handeln.

Amen.“

Gottvertrauen ist Selbstvertrauen

30. Sonntag im Jahreskreis

Mk 10,46-52
Euer / Ihr Pastor

Thomas Laufmöller

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