Wenn der Mensch sein Leben gut gestalten und den Weg der Liebe gehen will, muss er über sein Leben reflektieren. Er muss sich fragen, was für ein Mensch er ist und was für ein Mensch er sein möchte. Er erkennt seine Stärken und seine Grenzen. Er ist sich darüber bewusst, dass beides seinen Weg prägt und dass er immer wieder hinter dem, was er eigentlich sein könnte, zurückbleiben wird. Trotzdem muss er sich selbst im Spiegel anschauen können. Er sollte das regelmäßig versuchen. Wenn ich mich mit meinen Schülerinnen und Schülern in die Tage religiöser Orientierung begebe, schenke ich allen einen kleinen quadratischen Spiegel. Am Ende eines jeden Tages sind alle eingeladen, den Spiegel zu nehmen, in das eigene Gesicht zu schauen und sich folgende Fragen zu stellen:
– Wer bin ich heute gewesen?
– Wie habe ich heute vor Gott, den Menschen und der gesamten Schöpfung gelebt?
– Bin ich ehrlich und wahrhaftig gewesen?
– Habe ich heute lebensbereichernd gewirkt?
– Habe ich Leben beschädigt oder andere klein gemacht?
Es kommt darauf an, dass wir die eigene innere Haltung im Blick behalten und korrigieren. Gradmesser ist für uns als Christen das Leben des Jesus von Nazareth sein. Vor Jahren habe ich in der Stephanuskirche eine Frau getroffen. Sie kam nicht regelmäßig in den Gottesdienst, hat aber den Kirchraum oft aufgesucht. Dort erzählte sie mir, dass ihr beim Nachdenken über einen Lebensweg im christlichen Sinne die Seligpreisungen aus der Bergpredigt eine große Hilfe seien. Jeden Tag hat sie sie zur Hand genommen und mit ihnen über ihren Tag reflektiert.
– Selig, die arm sind vor Gott – Wie bin ich mit den Notleidenden umgegangen?
– Selig die Trauernden – Habe ich Trauernde gestützt?
– Selig, die Frieden stiften – Was habe ich zum Erhalt des Friedens beigetragen? War ich vielleicht daran beteiligt, dass Unfriede entstanden ist? Bin ich gegen Ungerechtigkeit aufgestanden?
Da die Frau von ihren Grenzen wusste, hat sie das Vaterunser zu den Seligpreisungen hinzugenommen und den liebenden Vater bzw. die liebende Mutter darum gebeten, ihr auf ihrem Lebensweg zu helfen. Es war ihr Ziel, ein gutes Leben zu führen und die Liebe zu verwirklichen. Dafür brauchte sie Beistand und Stärkung.
Jesus waren die jüdischen Gesetze, durch die man zu einem guten Leben kommen sollte, bekannt. Er kam aus einer gläubigen Familie, war selbst gläubiger Jude und ein Schriftgelehrter. In Mt 5,17 sagt er: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben! Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen.“ Damit meinte er, dass er die Gesetze durch die Liebe erfüllen wollte. Er hat sich die jeweils konkrete Situation angeschaut, seinen Blick auf den Einzelnen geworfen, der in dieser konkreten Situation betroffen war. Er hat dessen Inneres betrachtet, statt auf Äußerlichkeiten zu achten. Er hat den Menschen den Spiegel vorgehalten, damit sie selbst ihr Inneres erkennen.
Natürlich wusste Jesus, dass Lieblosigkeiten entstehen können, wenn man streng nach Gesetz und Gebot handelt und richtet. Wenn man dem Notleidenden nicht hilft, weil Sabbat ist, hat man zwar das Sabbatgebot nicht gebrochen, aber für Jesus war das Gesetz auf diese Weise nicht erfüllt. Das Gesetz allein schafft noch keine Liebe. Liebe bedeutet, nicht nur gerecht, sondern auch milde und barmherzig zu sein. Liebe bedeutet, Verständnis für den anderen aufzubringen, selbst wenn er anders denkt, als man es sich wünscht. Liebe bedeutet, Hintergründe zu erkennen, statt dem Vordergründigen den Ausschlag zu geben. Liebe bedeutet, die eigenen Grenzen nicht aus den Augen zu verlieren. Liebe bedeutet, der Wahrheit zu folgen und der eigenen Wahrhaftigkeit gemäß zu leben.
Das Gesetz allein ist nicht ausreichend. Jesus hat die Menschen geliebt und darum durch das Netz des Gesetzes an ihr Herz gegriffen. So hat er die Menschen im Innersten ihres Wesens berührt. In dieser Haltung entsteht Leben. Daran können Menschen, die ihren eigenen Weg in Liebe gehen möchten, sich ein Beispiel nehmen.
Im heutigen Evangelium lernen wir durch die Begegnung mit einem Pharisäer und einem Zöllner, worauf es im Leben ankommt. Der Pharisäer lebt streng nach dem Gesetz und ist für viele ein Vorbild im jüdischen Glauben. Er geht jeden Tag in den Tempel, weil er dort die Gegenwart Gottes spürt. Er hält die Gebetszeiten ein und erhofft sich, in diesen Zeiten sein Leben vor Gott ausbreiten zu können. Um dies zu tun, geht er nicht allein, sondern mit einem Zöllner in den Tempel. Eigentlich ist er also auf dem Weg, um Gott zu loben und zu preisen und sein Herz auf ihn zu richten. Stattdessen wirft er aber einen schrägen Blick auf den Zöllner und stellt sich selbst heraus. Er ist froh, nicht wie der Zöllner zu sein. Er macht sich groß, indem er den anderen klein macht. Dabei denkt er, dass er vor Gott privilegiert ist. Tatsächlich hat er Gott und die eigenen Grenzen aber aus den Augen verloren. Jesus erkennt das, weil er auf das Innere des Pharisäers schaut.
Wir kennen es von uns selbst, wie oft wir schlecht über andere Menschen reden und uns selbst dabei groß fühlen. Können wir im eigentlichen Sinne groß sein, indem wir andere klein machen? Ich glaube nicht! Wirklich groß sind wir aber dadurch, dass die Liebe Gottes in uns hineinströmt und wir sie zum anderen tragen.
Der Zöllner ist selbst kein ‚Unschuldslamm‘. Es war damals üblich, dass Zöllner die festen Tarife an ihren Zollstationen zum eigenen Nutzen erhöht haben. Natürlich weiß der Zöllner im Evangelium, dass er arme Menschen dadurch noch ärmer gemacht hat. Er hat auf ihre Kosten gelebt. Das Entscheidende ist aber, dass er sein Unrecht einsieht und es vor Gott bekennt. Er weiß, dass eine Wiedergutmachung unmöglich sein wird. Wie soll er die Betrogenen wiederfinden? Würde er sie überhaupt erkennen? Seine einzige Chance, mit der Last umzugehen, liegt darin, seine Schuld vor Gott auszusprechen, sich zu ihr zu bekennen und sie zu bereuen.
Solch ein Bekenntnis lesen wir in Psalm 51: „Gott, sei mir gnädig nach deiner Huld, tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmen! Wasch meine Schuld von mir ab und mach mich rein von meiner Sünde! Denn ich erkenne meine bösen Taten, meine Sünde steht mir immer vor Augen. Gegen dich allein habe ich gesündigt, ich habe getan, was böse ist in deinen Augen. So behältst du recht mit deinem Urteilsspruch, lauter stehst du da als Richter. Siehe, in Schuld bin ich geboren und in Sünde hat mich meine Mutter empfangen. Siehe, an Treue im Innersten hast du Gefallen, im Verborgenen lehrst du mich Weisheit. […] Verbirg dein Angesicht vor meinen Sünden, tilge alle Schuld, mit der ich beladen bin! Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz und einen festen Geist erneuere in meinem Innern!“
Diese tiefen Worte zeigen, dass der Mensch zu Gott kommen und seine Schuld bekennen kann. Sie zeigen aber auch, dass Gott daraufhin das Herz des Menschen erneuert und er dadurch gestärkt wird, es in Zukunft besser zu machen. Wenn wir selbst wahrhaftig in den Spiegel schauen, öffnet sich für uns der Blick in unser Inneres. Auch wir dürfen mit den erkannten Grenzen zu Gott kommen und uns verwandeln lassen. Wenn wir unseren Lebensweg in Liebe gehen möchten, müssen wir immer wieder neu über unser Wesen und unser Tun nachdenken und uns nicht zu weit von uns selbst entfernen. Aber wir dürfen dabei auch nicht vergessen, dass wir bei jedem Schritt Gottes Hilfe brauchen.
Schau in den Spiegel!
30. Sonntag im Jahreskreis