Wie lebe ich mit Traurigkeiten und Grenzen?

Heute haben wir kostbare Worte Jesu gehört – vielleicht die kostbarsten Worte, die uns das Neue Testament schenkt. Matthäus hat diese Worte etwa 40 Jahre nach der Kreuzigung aufgeschrieben. Bis dahin gab es nur die mündliche Überlieferung der Seligpreisungen Jesu, aus der Matthäus diese Worte komponiert hat. Eingebettet sind sie in die sogenannte Bergpredigt, die wie eine Symphonie klingt, zu der die Seligpreisungen die Ouvertüre sind. In solch einer Komposition ist jedes Element von besonderer Bedeutung – Beginn und Schluss haben aber noch einmal eine Sonderstellung. Mit „Selig, die arm sind im Geiste“ läutet Matthäus die Seligpreisungen ein. „Denn ihnen gehört das Himmelreich“, führt er fort und mit dieser Zusage enden die Seligpreisungen auch. Dies ist die größte Zusage, auf die der Mensch vertrauen kann.

An dieser umarmenden Zusage spüren wir, dass Matthäus die Seligpreisungen sprachlich gestaltet hat. Sie sind aus einer Erinnerung an den Exodus entstanden. Der Auszug aus Ägypten ist für das Volk Israel das wichtigste Ereignis in der Begegnung mit Gott. Zählt man die Seligpreisungen, so kommt man auf acht. Ursprünglich waren auch die zehn Gebote, die Mose während des Auszugs aus Ägypten von Jahwe erhalten hat, acht Gebote. Die letzten beiden sind erst hinzugekommen, als das Volk Israel das „gelobte Land“ bereits erreicht hatte und sesshaft wurde. Matthäus hat die Seligpreisungen entsprechend komponiert, um sie in die Autorität der zehn Gebote zu stellen. Diese Verbindung hat die juden-christliche Gemeinde natürlich sofort bemerkt. Ähnliches gilt für die Symbolik des Berges, die Matthäus aus der Exodus-Erzählung übernimmt. Wie Mose, so geht auch Jesus als „neuer Mose“ auf einen Berg und bringt die ursprünglichen Worte in eine neue Form. Dieser Berg deutet auf den Weg hin, auf den Jesus die Jünger mitnimmt, um sie in die Nähe Gottes zu bringen. Für den biblischen Menschen ist der Berg immer der Ort der Gotteserfahrung. Man geht dem Himmel entgegen, sieht den Himmel offen, geht auf Gott zu. Dort offenbart sich die Tiefe der ursprünglichen Worte, die Gott seinem Volk geschenkt hat. Jesus kleidet diese Tiefe für seine Jünger in die Worte der Liebe und der Freiheit.

Bei Lukas finden wir eine ähnliche Rede wie die Bergpredigt, die sogenannte Feldrede. Er beginnt seine Seligpreisungen mit „Selig, ihr Armen“ (Lk 6,20) und bezieht sich damit auf die materiell Armen. Um diese sollen die Jünger sich kümmern. Denn Jesus sagt diese Worte nicht zu den Jüngern, weil sie arm sind, sondern weil er ihre Herzen für die Armen öffnen möchte, weil er ihre Aufmerksamkeit für die Armut der Menschen erhöhen will, weil er sie zu tätiger Sorge anstoßen möchte.

Matthäus hingegen hat eine andere Art von Armut im Sinn: „Selig, die arm sind im Geiste“, heißt es in seinem Evangelium. Damit bringt er die Armut auf eine geistliche, auf eine mystische Ebene. Dieses Bild drückt aus, dass der Mensch seine Grenzen bedenken soll. Im Grunde möchte diese Formulierung sagen: ‚Du bist ein armseliger Mensch. Du kannst nicht alles. Du bist neben all deinen Fähigkeiten immer auch abhängig.‘ Der Evangelist fragt den Menschen indirekt, ob er um seine Armseligkeit weiß. Wer sich seiner Armseligkeit bewusst ist, wird vielleicht etwas bescheidener und demütiger. Kein Mensch hat die absolute Wahrheit und Weisheit und wenn man ehrlich mit sich ist, weiß man von den eigenen Grenzen. Natürlich möchte man dies in unserer Gesellschaft nicht hören. Sie duldet keine Schwächen. Darum haben viele Menschen Angst, zu ihrer eigenen Armseligkeit zu stehen. Ein anderer könnte es ausnutzen. Er könnte versuchen, all jene, die es zugeben, noch kleiner zu machen. In solch ein Licht, nämlich als armselig zu gelten, möchte keiner öffentlich geraten. Deshalb tragen viele Menschen Masken. Dabei wissen wir doch alle von unserer Armseligkeit.

Der Glaube macht deutlich, wie sehr wir Mensch werden können, da Gott gerade auf unsere Armseligkeit schaut. Er macht es mit Liebe – und damit anders als diese Gesellschaft. Die Seligpreisungen versprechen, dass all jene, die um ihre Armseligkeit wissen, selig werden. Sie bestärken den Menschen darin, Gott all das anzuvertrauen, was ihm in dieser Gesellschaft schwer fällt. Darum hat Jesus sich immer wieder zurückgezogen, heraus aus der Gesellschaft. Wollte er als wahrer Mensch nicht auch seine Armseligkeit, seine Not, seine Fragen, seine Zweifel, all die Lieblosigkeit, die ihn umgab, ganz offen und ganz ohne Maske vor Gott tragen? All dies in seine Hände legen? Und ist nicht auch das Wort: „Vater, in deine Hände lege ich mein Leben“ (Lk 23,46) Ausdruck seiner großen Armseligkeit? Spüren wir an solchen Worten nicht, dass unsere Persönlichkeit dann angesprochen ist, wenn wir wahrlich und ehrlich leben können? Wenn wir so leben können, wie unser Herz es uns sagt? Der Glaube ist eine wunderbare Einladung, völlig angstfrei auf den Berg zu steigen, dem liebenden Gott entgegenzutreten und ihm die eigene Armseligkeit zu bekennen. Dadurch kann der Mensch Heilung und Kraft erleben.

Die zweite Seligpreisung, die mir wichtig ist, lautet: „Selig, die Trauernden“ – man könnte auch „die Weinenden“ sagen. Wer weint heute noch? Wer traut es sich zu weinen? ‚Indianerherz kennt keinen Schmerz‘, wird einem bereits in der Kindheit gelehrt. Tapfer soll man sein. Jungen weinen nicht. Sie sollen vielmehr zäh wie Krupp-Stahl sein. Ich habe viele Menschen begleitet, die in Trauer standen und Wege durch die Trauer gesucht haben. Sie glauben nicht, wie oft diese Menschen gehört haben, dass sie doch endlich nach vorn schauen sollten. Wie oft sind sie gefragt worden, warum sie noch immer weinen – das sei doch nicht mehr auszuhalten! Lassen wir uns wirklich von den Schicksalen der Menschen im Tiefsten berühren? Oder stören sie uns und unser Verlangen nach Unbeschwertheit? Können wir Tränen ehrlichen Mitleids weinen? Lassen wir die Trauernden wirklich trauern und ihre Trauer in unser Innerstes hinein?

Jesus sagt, dass gerade diese Menschen, die Trauernden, selig sind. Selig sind jene, die ihre Trauer fließen lassen können, die den Mut haben, ihre Trauer nach außen zu tragen. Selig sind die Trauernden, die ihre Verletztheit und Traurigkeit irgendwo hinbringen können, wo es einen Platz dafür gibt. Trost findet der Mensch, wenn er seine Trauer, seine Traurigkeit, seine Tränen leben darf. Trost findet der Mensch, wenn er ehrlich mit seiner Trauer umzugehen wagt. Trost lässt sich auch in der Musik finden, deren Harmonien sich um die schwere Seele legen. Trost spendet die Natur mit ihrer Schönheit und Ursprünglichkeit, die Durchatmen, gar Aufatmen ermöglicht. Trost können wahre Gedanken wie jene von Dostojewski bieten, in denen sich die Sprache der Trauer wiederfindet. Trost lässt sich vor allem bei Menschen finden, die ganz bei einem sind, mit denen es im Erleben der Vertrautheit und Zugewandtheit gelingt, die eigenen Gefühle zuzulassen und mitzuteilen. Trost schenken jene Menschen, die Trauernde auffangen und mit Liebe umarmen.

Trost können Trauernde auch dann finden, wenn sie in sich ein Urvertrauen auf Gott spüren. Sie erleben gewissermaßen eine Kraft von oben. Der Himmel ist für sie wesentlich offen, d.h., das Wesen des Himmels, das Wesen Gottes, das Liebe ist, trägt sie. Bildlich betrachtet, erklimmen sie den Sinai und haben durch die Höhe des Berges freie Sicht und eine besondere Nähe zum Göttlichen. Sie wissen, dass sie ihrem Schöpfer vertrauen können, dass er sie mit seiner Liebe niemals im Stich lässt. Sie fühlen wie Jesus ganz inniglich, woher das wahre Leben kommt, nämlich aus der Beziehung zum Vater, im Leben mit Gott. Ein Vater weiß, was sein Kind braucht, was es wirklich braucht. Er weiß, was für das Kind notwendig ist, und schenkt es ihm. Gottes Liebe und sein Beistand hören niemals auf. Das ist das Himmelreich, das selig macht. Trauernde müssen es wagen, Gott wirken zu lassen. Es gilt, die eigenen Grenzen wahrzunehmen und anzunehmen. Es gilt, in Wahrhaftigkeit zu leben und sich einzugestehen, dass man als Geschöpf niemals vollkommen souverän sein kann und Gott in jedem Wesensmoment braucht.

Mir sind die Seligpreisungen aus dem Grund kostbar, weil es in ihnen um die Ehrlichkeit der eigenen Persönlichkeit geht. Die Ehrlichkeit der eigenen Gefühle steht im Mittelpunkt. Es geht um eine Haltung, die man sich in der heutigen Gesellschaft nur noch selten traut zu leben. An manchen Stellen ändert sich das. Da hört man von Menschen, die zugeben, in schwierigen Situationen geweint zu haben. Da sagen Frauen, dass sie gar nicht geahnt haben, dass der eigene Mann so viele Tränen vergießen kann. Schwere Situationen im Leben laden uns von der Heiligen Schrift her ein, ehrlich und wahrhaftig zu sein. Wir sind eingeladen, immer wieder Orte aufzusuchen, einen Berg zu besteigen, Menschen zu suchen, bei denen wir mit unserer Armseligkeit und unserer Trauer gut aufgehoben sind. Wenn wir solche Menschen momentan nicht haben, wenn uns Menschen fehlen, bei denen wir ehrlich sein können, dann haben wir einen Gott, dem wir unser Herz ausschütten können. Ihn kann ich bitten: ‚Gott, schenke mir liebende Menschen, die die Wahrhaftigkeit meines Lebens spüren und denen ich mich ganz anvertrauen kann‘. Dann entsteht Leben. Dann entsteht Heil.  Ist das nicht eine wunderbare Botschaft am Allerheiligen-Tag?!

Selig, die Armen… Selig, die Trauernden

Allerheiligen

Mt 5,1-10

Euer / Ihr Pastor

Thomas Laufmöller

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