Abschiede gehören zu unserem Leben. Wir werden als Menschen immer wieder mit ihnen konfrontiert. Es sind die kleinen Abschiede des Lebens, die wir im Alltag erleben, und es sind die großen Abschiede, die uns herausfordern. Wir müssen Abschied nehmen von Freunden, die verreisen oder wegziehen; wir nehmen Abschied von unseren Berufen, die wir viele Jahre ausgeübt haben; wir nehmen Abschied vom Elternhaus, das uns so lange ein stabiles Heim war; wir müssen Abschied nehmen von vertrauten Menschen, die sterben; und am Ende müssen wir von unserem eigenen Leben Abschied nehmen. Abschieden können wir nicht aus dem Weg gehen, sondern wir müssen lernen, mit ihnen umzugehen. Wie haben Sie die Abschiede, die Sie erlebt haben, bewältigt? Was hat Ihnen Trost geschenkt?
Einige Schülerinnen aus der Jahrgangsstufe 9 der Friedensschule haben sich folgende Gedanken über den Abschied gemacht:
Abschiednehmen – was heißt das? Was meint Ihr?
Wenn eine Person plötzlich aus deinem Leben verschwindet und dir dann bewusst wird, wie viel sie dir bedeutet hat. Die Person war immer da, einfach so. Sie hat dein Leben geprägt, es mitgestaltet, ohne dass es dir so wirklich bewusst war. Sie musste nicht mit dir sprechen und dich noch nicht einmal anschauen. Es reichte schon, wenn sie einfach nur da war. Schon hatte dein Leben einen Sinn. Du hast für diese Person gelebt und sie geschätzt, so wie sie war – auch wenn sie dich manchmal verletzt hat und du sie nicht mehr sehen und am liebsten vergessen wolltest. Du konntest nicht auf sie verzichten und hast ständig an sie gedacht. Jetzt ist sie auf einmal fort. Einfach so. Sie hat dir so viel bedeutet. Alles.
Wenn andere dich trösten und dir Mut zusprechen wollen und sagen: ‚Das wird schon wieder‘, spendet dir das wirklich Trost? Sie fühlen deinen Schmerz nicht und haben ihre eigenen Sorgen. Sie sagen: ‚Lass los‘. Doch du weißt, dass du dich nicht trennen kannst und nicht über sie hinweg kommst. Die anderen kannten die Person nicht, so wie du sie gekannt hast. Kein Tag vergeht ohne Erinnerung. Du fängst was Neues an, probierst, dich abzulenken. Doch die Person steckt in jedem Detail und du kommst nicht drum herum. Was spendet dir dann wirklich Trost?
Einfühlsame und aufmunternde Worte,
Ablenkung,
Mitgefühl,
Zeit, die heilt und Tränen trocknet. Nichts geht einfach vorbei. Doch es tut weniger weh.
Hoffnung – Hoffnung auf ein Wiedersehen, ein Wiedersehen in diesem Leben.
Ein Fünftel des Johannes-Evangeliums ist mit Abschiedsreden Jesu gefüllt. Damit möchte Johannes den Menschen für ihre eigenen Abschiede Worte mit auf den Weg geben, die sie trösten, die Balsam für ihre Seelen sind. Auch wenn diese Abschiedsreden in der Ich-Form formuliert sind, handelt es sich nicht um Original-Worte Jesu. Vielmehr sind es Worte, die der Evangelist Johannes aus der inneren Haltung Jesu gewonnen und so in seine eigene Sprache gekleidet hat, wie er diese Innerlichkeit empfunden hat. Letztlich beschreibt und verdichtet Johannes in all diesen Reden seinen Glauben.
Johannes ist der Philosoph unter den Evangelisten. Er erzählt das Leben Jesu nicht im Detail von der Geburt über den Tod bis zur Auferstehung, sondern er möchte die Menschen mit hineinnehmen in ein innerliches Fühlen und Glauben und ihnen die Geheimnisse des Glaubens eröffnen. Dabei hat er sich durchaus von philosophischen Ansätzen beeinflussen lassen. Er entschlüsselt diese Geheimnisse nicht einfach, sondern lehrt wie Platon, dass wir letztlich immer nur Schatten erkennen können, dass also immer ein Rest Verborgenheit in allen Erkenntnissen und Antworten bleibt. Ähnlich artikuliert es Paulus: „Jetzt schauen wir wie in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse“ (1 Kor 13,12). Das tiefe Geheimnis, die tiefe Wahrheit, die absolute Wahrheit des Glaubens können wir hier auf Erden nur erahnen. Dieses Erahnen ist aber gleichzeitig der Trost des Menschen, der ihn darin bestärkt, sich in dieses Geheimnis des Glaubens hineinzubegeben. Wir sind eingeladen, unser Leben zu vertiefen und tiefer in die Geheimnisse der Wirklichkeit zu schauen. Es ist der Trost des Menschen, einzutauchen in eine Liebe, die für ihn unvorstellbar ist. Johannes möchte den Menschen mit seinem Evangelium Wegbegleiter sein für eine innere, geistliche Haltung. Er erhofft sich, dass sie ihnen Trost und Zuversicht schenkt.
Wie stellt sich dies in der Abschiedsrede des 14. Kapitels des Johannes-Evangeliums konkret dar? In ihr sind die tiefsten Worte, gerade auch für Stunden des Abschiedes, zu finden. Sie können dem Menschen eine Hilfe und einen Ausblick schenken. Wenn ein geliebter Mensch stirbt, schmerzt das unendlich. Er ist einfach fort und hinterlässt eine Lücke. Da macht es keinen Sinn zu hören, dass es nicht so schlimm ist oder dass es bald an der Zeit ist, darüber hinweg zu sein. Der Einzelne muss seinen persönlichen Weg gehen. Die Herausforderung, einen geliebten Menschen auf Erden loszulassen, ist groß und von tiefem Schmerz begleitet. Auch Jesus fällt es in dieser Abschiedsrede schwer loszulassen. Trotzdem findet er Worte des Trostes für seine Jünger, indem er ihnen sagt, dass er ihnen vorausgehen wird. Derjenige, der vorausgeht, geht einen Weg vor, er bahnt einen Weg. Wie gut kann es tun, wenn jemand einen unbekannten Weg vorausgeht und den Zurückgebliebenen dadurch zum Wegweiser wird.
Jesus geht in die Herrlichkeit des Vaters voraus, um den Menschen dort eine ewige Heimat zu bereiten. Das erinnert mich an das Lied „Wir sind nur Gast auf Erden“. Dort heißt es weiter: „und wandern ohne Ruh mit mancherlei Beschwerden der ewigen Heimat zu“. Christian Morgenstern bemerkt: „Nicht da ist man daheim, wo man seinen Wohnsitz hat, sondern wo man verstanden wird“. Wenn ein Mensch verstanden wird, kann er auch wahrhaftig sein. Wenn wir wissen, dass uns ein anderer mit offenem Herzen zuhört, so dass wir ganz ohne Maske vor ihm oder ihr stehen können und wagen, das zu sagen, was wir denken und fühlen, dann ist das Heimat. Heimat ist da, wo wir uns ausruhen können und Geborgenheit finden, wo wir wieder aufgerichtet werden. Heimat ist dort, wo wir merken, dass da die Reife und Fülle des Lebens ist. Diese Fülle des Lebens wird hier auf Erden immer wieder zurückgedrängt, weil wir Menschen sind und weil zum Menschsein die Lieblosigkeit gehört. Wir tragen die göttliche Liebe aber trotz unserer Grenzen bereits in uns und können uns auf ihre grenzenlose Verwirklichung freuen. Johannes möchte deutlich machen, dass es in der Stunde des Abschieds eine ganz andere innere Haltung bewirken kann zu wissen, dass wir auf ein Ziel ausgerichtet sind und einmal in der ewigen Liebe Gottes wohnen werden. In der Gewissheit zu leben, dass es dort keine Schmerzen und Qualen mehr geben wird, keine Mühsal, Not und Angst, keine Täuschungen und Enttäuschungen, dass wir dort nicht mehr Abschied nehmen müssen, sondern dass wir in der Fülle der Liebe unseres Gottes leben können, ist ein großer Trost.
Jesus sagt seinen Jüngern zu wiederzukommen, um sie zu holen, damit sie dort sein können, wo er ist. Er lässt sie mit diesem Abschied nicht im Stich, sondern schenkt ihnen Verlässlichkeit. Da ist jemand, der wartet auf uns. Und er deutet an, was es heißt, wenn wir im Hochgebet sprechen: „Dann werden wir ihn sehen von Angesicht zu Angesicht“. Dann werden wir ihn erkennen, so wie er ist. Dann werden wir dort sein, wo die Liebe in Fülle ist. Tiefes Leben entsteht, wenn wir in die Augen des absolut Liebenden schauen können. Biblisch gesehen, werden wir natürlich auch in unserer ganzen Wahrhaftigkeit vor Gott stehen und möglicherweise werden wir erschrocken sein über uns selbst – wie wir nämlich hätten sein können, es aber nicht gewesen sind. Gott kommt dann aber nicht als strenger Richter aller Sünder, sondern er ist und bleibt der liebende Vater oder die liebende Mutter. Wir sind und bleiben seine geliebten Kinder.
Das Mutterbild für Gott finde ich manchmal noch viel inniger. Wir sollen in diese Innerlichkeit eintauchen. Eine Mutter, die ihr Kind liebt, liebt es nicht, weil es etwas geleistet hat. Sie liebt das Kind bedingungslos, weil es ihr Kind ist, weil es aus ihrem Innersten kommt. Das Kind kann niemals aus dieser Liebe herausfallen, ganz unabhängig davon, was es an Gutem, aber auch an Grenztaten getan hat. Das genau trifft das Bild unseres Gottes. Jesus hat immer gesagt, dass Gott ein liebender Vater ist.
Wie können uns diese Abschiedsworte, die der Evangelist aus dem Herzen Jesu genommen hat und die er in unser Herz hineinlegen möchte, hier und heute helfen? Entscheidend ist, dass wir uns bewusst machen, dass wir auf ein Ziel hin leben. Dieses Ziel ist nicht der Tod, sondern das Leben. Wir leben darauf hin, einmal ganz in der Liebe Gottes zu sein und dem Auferstandenen zu begegnen. Wenn Jesus vorausgegangen ist und uns nachholen wird, ist es ein Glaubenssatz, dass auch all die lieben Verstorbenen vorausgegangen sind, ihm nachgefolgt sind. Einmal werden wir mit ihnen, natürlich auf eine ganz andere Weise, wieder vereint sein.
Leben bedeutet, es einzuüben und immer wieder zuzulassen, dass wir auf die Nähe Gottes hin ausgerichtet sind. Im Evangelium drückt sich dies dadurch aus, dass Jesus sagt, er sei der Weg. Glaube ist ein Weg, ist ein Weg in die Innerlichkeit Jesu Christi. Glaube ist ein Weg, Menschen darin zu begleiten, nicht nur auf die vordergründigen Dinge des Lebens zu schauen. Johannes weiß, dass der Mensch das üben muss, dass er immer wieder neu sein Herz dafür öffnen muss. Es ist die entscheidende Aufgabe der Kirche, den Menschen solche Wegbegleiter zu schenken. Es geht darum, die Menschen in die Innerlichkeit Jesu Christi zu begleiten, damit sie darin Halt und Zuversicht für das Leben und für die Abschiede des Lebens finden. Am deutlichsten wird mir das in der Schulseelsorge, wo ich ein eigenes Zeugnis abgeben kann, wo ich den Schülern etwas von der Liebe Jesu Christi weitergeben darf, wo wir zusammen Meditations- und Gebetsformen ausprobieren können, wo wir gemeinsame Gottesdienste feiern. Das ist zusammen mit den Schülerinnen und Schülern ein Einüben in die Liebe Christi. Darauf muss man als Kirche achten. Das ist der Weg der Kirche. Es geht nicht um die stete Frage, wie viele Pastöre noch verfügbar sind und wie man sie auf immer größere Seelsorgeeinheiten verteilen kann, sondern ob es Menschen gibt, die die Gemeinden in die Innerlichkeit Jesu Christi hineinführen.
Mahatma Gandhi bestärkt den Menschen darin, um nichts anderes beten zu lernen, als „dem Göttlichen ganz nahe zu kommen“. Gebete sollen sich nicht immer nur um die eigenen Bitten drehen oder um die Dinge, für die man dankbar ist. Beten heißt im Grunde, in der Liebe Gottes zu bleiben und auf sie zu vertrauen. Je inniger wir Jesus Christus verstehen und je mehr wir seinen Geist wirken lassen, desto mehr hebt sich bereits heute die „Schranke des Todes“, sagt Eugen Drewermann. Dann wird der Tod zum Licht des Lebens und der Liebe. Dieses Licht weist auf eine Welt, nach der wir uns zutiefst sehnen. Daraus lässt sich eine Kraft-Quelle ziehen, die uns zwar nicht die Traurigkeiten des Abschiedes nimmt, die aber den Abschied in Hoffnung, Segen und Heil kleidet.
Sehr einfühlsam hat Rainer Maria Rilke dies in einem Gedicht ausgedrückt:
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
Wir können nicht tiefer fallen als in Gottes Hände. Was es heißt, darauf zu vertrauen, besonders wenn wir einen geliebten Menschen gehen lassen müssen, wird in dem Lied „Gott, wie vertraun dir diesen Menschen an“ deutlich.
Gott, wie vertraun dir diesen Menschen an
Dieses Lied möchte ich Ihnen nun vorsingen und somit ans Herz legen.