Der November lädt uns dazu ein, auf die Grenzen des Lebens zu schauen, auf die wir alle zugehen. Der Gang zu den Gräbern, der Allerseelentag, der Volkstrauertag und der Totensonntag sind alle in diesem Monat versammelt. Es wird jeden Tag früher dunkel und diese Dunkelheit scheint fast ein Sinnbild für unsere seelische Dunkelheit zu sein, die der Verlust lieber Menschen auslöst. An sie erinnern wir uns in diesem Monat mehr als sonst. Ebenso werden wir daran erinnert, dass wir selbst unser Leben einmal in Gottes Hände zurücklegen müssen. Wie begegnen wir unserer eigenen Endlichkeit? Wenn wir einen geliebten Menschen verlieren, ist dies der härteste Schlag, der uns treffen kann, weil uns ein Teil des eigenen Herzens genommen wird. Wie können wir lernen, den Schmerz der Trauer zuzulassen und mit ihm umzugehen? Wir können die Realität des Lebens nicht von uns wegschieben und den Tod nicht ausklammern. Er ist und bleibt Teil des Lebens und dieser Teil muss gelebt werden. Wie aber kann das gelingen?

Wenn die Wellen des Lebens über uns zusammenbrechen, ist es verständlich, dass wir Angst haben. Das heutige Evangelium endet mit harten Worten. Weil die Jünger während des Sturms auf dem See Angst haben, fragt Jesus sie, wo ihr Glaube, wo ihr Vertrauen ist. Wenn er später am Kreuz die Worte „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ spricht, merken wir, dass es Lebenssituationen gibt, in denen wir noch so stark glauben können, dass die Fragen und Zweifel aber trotzdem aus dem Inneren hervorkommen und uns überwältigen – selbst Jesus, der ganz aus der Liebe des Vaters gelebt hat. Ich verstehe Margot Käßmann daher sehr gut, wenn sie davon spricht, im Zweifel zu glauben. Als wahrer Mensch zeigt Jesus am Kreuz, dass Glaube und Zweifel eng beieinanderstehen, dass dies also die menschliche Situation ausmacht. Manchmal ringen wir mit Gott, weil wir gewisse Geschehnisse einfach nicht mehr aushalten können. Trotzdem schenkt uns das Evangelium Hoffnung, dass es einen Weg gibt, trotz aller Ängste, Fragen und Zweifel, trotz aller Wellen, die über uns zusammenbrechen, trotz aller Verluste im Glauben und im Leben gestärkt zu werden.

Ich bin bisher viermal in meinem Leben in Israel gewesen und kenne die Geographie des Sees Genezareth, auf dem im Evangelium der Sturm tobt, genau. In der Regel liegt er ruhig und still da und es scheint, als könne er kein Wässerchen trüben. Er ist von massiven Gebirgsformationen umgeben – im Norden vom Berg Hermon, im Westen von den Ausläufern des Libanon-Gebirges, im Osten von den Golanhöhen. Darum liegt er geschützt. Aber wegen dieser schützenden Gebirge können auch Fallwinde auf den See treffen, die das Wasser plötzlich brodeln lassen. Es entstehen scheinbar aus dem Nichts heraus peitschende Wellen. Boote sind nicht mehr steuerbar und können sogar kentern. Auch wenn dieser ‚Spuk‘ meist nur eine kurze Weile andauert, ist er sehr gefährlich.

Für mich ist dieses Naturereignis ein Bild für das Leben. Wir wissen alle, dass es sich ohne Vorwarnung derart verändern kann, dass wir keinen Boden unter den Füßen mehr spüren und in einen Abgrund stürzen. Diese Bodenlosigkeit ist manchmal kaum zu ertragen. Die Bibel verwendet an dieser Stelle das Bild des Wassers, weil Wasser keinen festen Grund hat. Wenn es klar ist, können wir den Grund aber in der Tiefe sehen. Er zieht uns förmlich zu sich – in den Abgrund. Es ist nur verständlich, dass in dieser Situation Fragen und Ängste entstehen. Wir schwimmen auf einem Wasser, das uns zwar trägt, das uns aber auch verschlingen kann. Wir schauen auf die grenzenlose Weite des Sees und in die grenzenlose Tiefe des Wassers und verlieren die Orientierung. Unmissverständlich werden wir mit der Hinfälligkeit des Lebens konfrontiert.

Wenn uns der Boden unter den Füßen weggezogen wird, geraten wir entweder in Panik oder wir schaffen es, dies eine Zeit lang zu ignorieren. Wir schützen uns mit einem Panzer und lassen keine Gefühle an uns herankommen. Wenn wir zu tief verletzt sind, haben wir keine Kraft, uns den Fragen des Lebens zu stellen. Wir scheinen dadurch nur noch tiefer in den Abgrund gezogen zu werden. Irgendwann kommt aber der Punkt, wo wir den Fragen des Lebens nicht mehr ausweichen können. Wir überlegen, wie uns das Erlebte verändert hat.

Beruhigt sich das Wasser nach einem Sturm wieder, kann das für uns eine Entlastung bedeuten. Es kann aber auch noch schwerer werden. Wenn wir einen lieben Menschen verlieren und in der Stille auf uns allein gestellt sind, kommen Erinnerungen hoch, die uns traurig machen. Diese Stille auszuhalten, ist manchmal gar nicht so leicht. Wie können wir es schaffen, dankbar zu sein, wenn schöne Erinnerungen aufkommen? Wenn diese Erinnerungen Gegenwart werden, bleiben die Verstorbenen in unserer Mitte. Wir spüren, dass sie fest und tief in unseren Herzen und daher immer anwesend sind. Indem wir uns an sie erinnern, lassen wir die Verstorbenen in unseren Herzen aufleuchten.

Jesus beruhigt die Seelen der Jünger. Weil er selbst Unfassbares ertragen musste, weiß er, dass es nicht leicht ist, mit den Stürmen des Lebens umzugehen. Es braucht eine harte Auseinandersetzung mit dem Leben. Wir müssen uns unseren Ängsten stellen. Jesus schenkt den Jüngern durch seine Worte aber eine Perspektive. Wenn wir uns ihm anvertrauen, kann uns diese Hoffnung tragen. Jesus fährt im Boot unseres Lebens mit, er kennt unsere Ängste und Fragen und lässt uns nie allein. Die Liebe, die er uns schenkt, zieht uns ans Ufer – an das Ufer des Lebens und einmal sogar an das des ewigen Lebens.

In den guten Zeiten unseres Lebens können wir das Vertrauen in Gott einüben. Glauben heißt, in Beziehung mit Jesus Christus zu leben. Diese Beziehung möchte uns in den schwierigen Situationen unseres Lebens Halt und Kraft geben, aber auch mit Freude und Dankbarkeit gelebt werden. Jesus selbst schläft während des Sturms. Er hat ein unumstößliches Vertrauen, in das wir uns verankern können. Durch ihn als Anker stabilisiert sich unser Boot. Auch wenn wir die äußeren Geschehnisse nicht abzuwenden vermögen, ist die Frage ausschlaggebend, wie wir zu Gott stehen. An ihr entscheidet sich letztlich unser Leben.

Jesus fährt mit seinen Jüngern von einem Ufer zum anderen. Ich empfinde dies als Bild für das Leben, das mit der Geburt beginnt und Kurs nimmt hin zur Ewigkeit Gottes. Hier findet jeder Mensch neues Land. Jesus Christus ist ein Gott der Lebendigen und nicht der Toten. Er hat uns seine Liebe eingehaucht und diese Liebe ist größer als der Tod. Darum können wir nicht tiefer fallen als in seine Hände. Auch unsere Verstorbenen können wir in diese Hände legen. Er ist unser Leben und wenn wir dieses Leben heute in uns selbst wahrnehmen, erlangen wir die Kraft, über das irdische Leben hinaus in seine Ewigkeit hineinzuspüren. Der Tod ist eine Realität des Lebens, aber er ist nicht dessen Zukunft. Wenn uns Angst und Schmerz übermannen, können und dürfen wir uns zuversichtlich an dem festhalten, auf den wir vertrauen und an den wir glauben. Dann werden wir durch die Schwere getragen hin zu neuem Leben.

In der Eucharistie möchte Christus uns in unseren Beziehungen zu ihm und zu den Menschen wandeln. Wenn wir einen lieben Menschen verlieren, ist dies nicht das Ende der Beziehung zu diesem Menschen. Es ist das Ende der Art von Beziehung, die wir mit dem Verstorbenen als Mensch geführt haben. Beziehungen sterben nicht, nur weil ein Mensch abwesend ist. Sie wandeln sich. Wir sind von Christus eingeladen, sie neu zu leben, sie in die Weite der Ewigkeit hin zu öffnen. In der Eucharistie fließt seine Liebe in uns ein und wandelt uns zu Menschen, die ihn stetig im eigenen Herzen tragen. So sind auch liebe Menschen immer in unseren Herzen gegenwärtig – ob sie bereits verstorben oder noch am Leben sind. Die Liebe ummantelt jeden Schmerz und öffnet unseren Blick für das Leben. Sie ist grenzenlos und schenkt uns Halt auf jedem Meter unserer Bootsfahrt hin zum anderen Ufer – der Ewigkeit Gottes.

Sturm auf dem See – Was beruhigt meine Seele?

Mk 4,35-40

Euer / Ihr Pastor

Thomas Laufmöller

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