Die heutigen Worte aus dem Markus-Evangelium sind apokalyptisch. Als solche muss man sie auch verstehen und deuten. „Apokalypse“ heißt „Offenbarung“. Etwas wird offengelegt – in unserem Fall wird offenbar, wie Markus sich das Ende der Welt vorstellt. Die Worte wagen einen Blick in die Zukunft. Um diesen Ausblick darzustellen, verwendet Markus, wie es in diesem Schriftgenre üblich ist, sehr aussagekräftige Bilder. Er lässt Jesus von einer großen Not erzählen, die auf die Menschheit zukommt. Die Sonne verfinstert sich und auch der Mond scheint nicht mehr. Die Sterne fallen vom Himmel. Es herrscht also absolute Dunkelheit, die die Menschheit umgibt. Wer das hört, bekommt unwillkürlich Angst. In diese Situation hinein tritt der Menschensohn mit großer Macht und Herrlichkeit und fängt den Schrecken der Zuhörer und auch der Leser auf.
Alle biblischen Texte haben einen geschichtlichen Hintergrund, sind also von geschichtlichem Denken, Empfinden und Erleben abhängig. Einen Text mit dunklen Bildern wie diesen kann man daher nur verstehen, wenn man in die jüdische Geschichte eintaucht. Denn Markus war Jude und fest im Judentum verankert. Wie kommt es, dass er Dunkelheit und große Not dem Kommen des Erlösers vorangestellt hat? Das liegt daran, dass das Volk Israel immer wieder große Not erfahren musste und das Gefühl aufkam, am Ende aller Kräfte und aller Hoffnung zu sein. Man musste mit der Dunkelheit und Trostlosigkeit im eigenen Erleben umgehen.
Ich möchte Ihnen einige einschlägige Beispiele nennen, damit Sie einen Eindruck davon bekommen, aus welchen Erfahrungen heraus Markus sein Evangelium geschrieben hat. Bereits 167 v. Chr. gerieten die Juden in große Bedrängnis. Der seleukidische König Antiochos IV. versuchte, der jüdischen Kultur in Israel ein Ende zu bereiten, indem er heidnische Standbilder im Tempel aufstellen ließ, indem er die jüdischen Riten untersagt und das jüdische Volk mit Schmähungen an den Rand gedrängt hat. In diesen Zeiten der Not kam es immer wieder zu Aufständen, beispielsweise durch die Makkabäer. Ihnen gelang es 165 v. Chr., die Gewaltherrschaft der Seleukiden zurückzudrängen und einen selbständigen Staat Israel zu gründen. Es folgte eine Zeit der Hoffnung, die aber bereits im Jahr 6. n. Chr. einen Bruch erfuhr, als der römische Kaiser Augustus Israel in eine römische Provinz umwandeln ließ. Als der römische Kaiser Caligula im Jahr 40 n. Chr. dann erneut heidnische Standbilder im Tempel aufstellte, geriet das jüdische Volk ein weiteres Mal in seelische Not. Die Juden fühlten sich wie in eine Dunkelheit getrieben, weil ihr heiligster Ort von den Römern missbraucht wurde. Sie hatten das Gefühl, als würde die Erde vergehen. Ihr Lebensraum wurde beschnitten und ihr Glaube zerstört.
Die große Katastrophe traf sie aber erst 70 n. Chr., als die Römer den jüdischen Tempel vernichteten. Kirchengeschichtler sagen, dass die Juden und die Christen sich gerade in diesem Jahr voneinander getrennt haben. Weil die Christen nicht mit den Juden gemeinsam gegen die Römer kämpfen wollten, sondern nach Norden, nach Pella, in die Nähe des Sees Genezareth flohen, konnten die Juden die Römer ihrer Ansicht nach nicht bezwingen. Dass ihr Tempel in dieser Folge zerstört wurde, ist ein Bild tiefster Traurigkeit, Enttäuschung und Dunkelheit.
Das Markus-Evangelium ist etwa ein bis zwei Jahre nach der Katastrophe geschrieben worden und natürlich fließen die Erfahrungen der Zerstörung in Form von dunklen Bildern in seine Gedanken hinein. Man kann geradezu von „Visionen der Angst“ sprechen, die Jesus in dieser Szene an seine Jünger weitergibt. Sie scheinen angstbesessen zu sein. Bei Paulo Coelho habe ich einmal gelesen: „Die Angst vor dem Leid ist größer als das Leid“. Diese Angst vor dem Leid hatte das jüdische Volk Jahrzehnte vor der Zerstörung des Tempels begleitet. Als das große Leid schließlich kam, ist im Grunde in den Menschen alles zerstört worden.
Wie reagiert jemand, der weiß, dass es nicht mehr weitergeht? Oftmals wird er von Depressionen befallen. Er hat das Gefühl, dass nichts mehr einen Sinn hat. Ausweglosigkeit und Sinnlosigkeit rauben einem Menschen alle Kräfte, so dass er schließlich aufgibt. Er kann nicht mehr und willigt in sein Schicksal ein. Er übernimmt die Opferrolle für sich, in die das Leben ihn gedrängt hat. ‚Jetzt ist sowieso alles egal‘, denkt er letztlich. Er wird gleichgültig gegenüber dem Leben. Diese dunkle Situation spiegelt sich im Evangelium wider.
Das Großartige an unserem christlichen Glauben ist, dass unser Gott, Jesus Christus, all dies selbst durchgemacht hat und daher weiß, wie es uns in solchen Zeiten geht. Er weiß, was es heißt, am Boden zu liegen, weil er selbst am Boden gelegen hat. Er weiß, was es heißt, voller Ängste zu sein, weil er selbst Angst hatte. Er kennt die dunklen Gefühle, die die Heilige Schrift uns heute in Form von apokalyptischen Bildern zumutet.
Jesus zeigt dem Menschen, wie man mit solchen Erfahrungen umgehen kann. Er bindet sich noch tiefer an die Liebe seines Vaters und das ist entscheidend. Dabei ist es doch eine große Tragödie, dass seine engsten Freunde ihn in der tiefsten Dunkelheit seines Lebens verlassen haben. Eigentlich hat er nur noch die Liebe des Vaters und statt nun völlig zu resignieren, vertraut er sich dieser Liebe ganz an. Dadurch verschließt er seine Augen nicht vor der Angst, sondern kann ihr ins Gesicht schauen. Seine Gewissheit, dass er letzten Endes von der Liebe Gottes getragen wird, macht diese Konfrontation möglich. Mit offenen Augen und tiefem Vertrauen kann der Mensch, der sich Jesus zum Vorbild nimmt, schließlich noch so kleine Zeichen der Hoffnung und des Lebens erkennen. Sie leiten ihn zurück auf den Weg. Im Roman „Dienstags bei Morrie“ ist der Schüler Mitch traurig darüber, dass sein früherer Professor Morrie bald sterben wird. Auf diese resignative Traurigkeit entgegnet der todkranke Morrie: „Wer sagt, dass die Geschichte hier ein Ende hat?“ Wer sagt, dass die Geschichte des Menschen im Dunkeln endet? Jesus hat den Menschen auch im heutigen Evangelium zugesagt, dass ihre Geschichte nicht im Dunkel des Todes endet, sondern dass sie ins Licht des Lebens übergehen wird.
Markus möchte den Menschen mit seiner Apokalypse ermutigen, sich nicht im Dunkel der Angst und des Leids zu verlieren. Das ist kein Sonntagsspaziergang, sondern eine harte Auseinandersetzung mit dem Leben. Zur Seite stehen liebende Menschen und ein liebender Vater. An ihn kann sich der Mensch vertrauensvoll binden. Ihn kann er um Hilfe bitten, immer wieder aufzustehen.
Fragen Sie sich doch einmal, ob auch Sie so vertrauen können, wie Jesus es vermochte. Und reflektieren Sie über Ihre Ängste in Zeiten, in denen Sie nicht von ihnen überschwemmt sind. Folgende Impulsfragen möchte ich Ihnen dafür mit auf den Weg geben:
Welche Ängste im Leben haben Sie gehabt?
Wie sind Sie mit Ihren Ängsten umgegangen?
Wie sind Sie wieder aufgestanden?
Wer hat Ihnen dabei geholfen?
Umgang mit den Ängsten meines Lebens
33. Sonntag im Jahreskreis