Was ist in einer Beziehung das Wichtigste? Bin ich zusammen mit Brautpaaren auf dem Weg, so erzählen mir diese im Allgemeinen, dass Vertrauen die Grundlage ihrer Verbindung darstellt. Wenn wir auf unsere Beziehungen zu anderen Menschen und zu den Tieren schauen, stellt sich darum die Frage, wie viel Vertrauen wir in sie haben.
- Wie viel Vertrauen haben wir zu uns selbst?
- Wie stark ist unser Glaube in Gott? Schaffen wir es, uns ihm anzuvertrauen?
- Und inwieweit vertraut Gott uns, dass wir den Weg der Liebe suchen und gehen?
Das heutige Evangelium stellt das Bild des guten Hirten in den Mittelpunkt. Vergegenwärtigen wir uns dieses Bild, so sehen wir sogleich, dass es sich um Gemeinschaft und Beziehung dreht. Damit stellt es gleichzeitig ein Bild des Vertrauens dar.
Letztens las ich, dass heutige Hirten eher an das Fell und an das Fleisch denken, dass ihnen das Wesen der Schafe aber nicht besonders wichtig ist. Es geht ihnen darum, ihre Schäflein ins Trockene zu bringen und gut durchzukommen. Der Profit steht im Vordergrund und weniger das Leben und Wohlgefallen ihrer Schafe. Das Verhältnis zwischen Hirte und Herde wird oft hierarchisch – im Sinne von Macht und Unterordnung – verstanden. Von einer wirklichen Beziehung kann dann nicht mehr die Rede sein.
Anders verhält es sich mit dem guten Hirten. Er möchte mit seinen Schafen zusammen leben. Beobachtet man die Schafherden in Israel, so fällt auf, wie viel Zeit der Hirte mit seinen Tieren verbringt, wie unermüdlich er sich um sie kümmert. Er sucht Wasser und saftige grüne Weiden für seine Schafe, weil er ihnen ein gutes und gelingendes Leben ermöglichen möchte. Die Schafe wiederum schenken ihm Vertrauen. Denn Vertrauen hat mit Vertrautsein zu tun. All dies ist entscheidend für eine gute Beziehung: Man verbringt Zeit miteinander, sorgt sich, vertraut einander. Wenn ein Schaf verloren geht, geht der Hirte ihm nach. Er sucht nach ihm und holt es über die Schulter gelegt heim. Ich erinnere mich hier an ein Bild von Sieger Köder, das solch ein Heimholen darstellt. Es erfüllt den Hirten mit unendlicher Freude, sein verlorenes Schaf wiedergefunden zu haben. Er würde sogar sein Leben für seine Schafe geben. Welch ein wunderbares Bild! Es berührt mich immer wieder.
Ein Wort von Papst Franziskus geht mir in diesem Zusammenhang nicht aus dem Kopf. Die Hirten müssen nach ihren Schafen riechen. Das ist nur möglich, wenn sie bei den Schafen sind und in Beziehung mit ihnen treten. Ich möchte dieses Wort noch weiterführen. Die Schafe müssen dem Hirten unter die Haut gehen. Er muss berührt sein vom Leben und Schicksal seiner Tiere. Er muss ihnen sein Herz öffnen, damit es eine wirklich vertrauensvolle und lebendige Beziehung wird.
Das Bild, das ich selbst am beeindruckendsten finde, ist, dass die Schafe ihren Hirten an seiner Stimme erkennen. Auch das setzt ein regelmäßiges Zusammensein voraus. Die Stimme des anderen können wir nur hören und kennenlernen, wenn es zu Begegnungen kommt. Auf diese Weise entwickelt sich eine Vertrautheit mit der Stimme, die Nähe und Geborgenheit schafft, die Liebe ausdrückt und Orientierung bietet. Meist ist diese Stimme des Hirten die erste, die ein Lamm bei seiner Geburt hört. Ein Leben lang bleibt diese vertraute Stimme an der Seite des Schafes und schenkt ihm damit sein Zuhause – wo immer sich die Herde auch befinden mag.
Die Stimme Gottes ist immer eine Stimme der Liebe und der Barmherzigkeit. Sie gibt dem Menschen, der sich ihm anvertraut, Kraft und Glauben. Bei den Juden kommt der Glaube vom Hören, da Jahwe mit seinem Wort in Beziehung zu seinem Volk tritt. Das jüdische Glaubensbekenntnis wird daher „Schema Jisrael“, also „Höre, Israel!“ genannt. Der gläubige Jude lernt als erstes, den Worten Jahwes, ihres Hirten, Aufmerksamkeit zu schenken, dann auf das zu hören, was die Propheten sagen, und dem zu lauschen, was die Menschen von ihren Glaubenserfahrungen erzählen.
Als Priester frage ich mich, wie ich noch nah bei den Menschen sein kann, wenn die Gemeinden immer größer werden. Inzwischen spricht man schon von „XXL-Gemeinden“. Mal wird mir ein Gottesdienst in dieser, mal in jener Kirche zugeteilt und bald werden die pastoralen Räume erneut erweitert. Wie soll ein Priester unter diesen Voraussetzungen seine Stimme erklingen lassen und den Menschen vertraut werden? Wie soll er die Stimmen „seiner Herde“ hören? Das Bild des Evangeliums ist doch eindeutig und zeigt, wie unverzichtbar Nähe und Vertrauen sind. Dazu bedarf es Raum und Zeit.
„Ich gebe ihnen ewiges Leben“, verspricht der Hirte in Joh 10,28. Diesem Wort aus dem Munde Jesu, der unser Hirte ist, dürfen wir vertrauen. Was aber meint er damit? Was ist das ewige Leben? Meist haben Menschen die Vorstellung, dass sich die Seele mit dem Tod vom Körper löst und ewig weiterleben wird. Ursprünglich stammt diese Vorstellung aus der ägyptischen Mythologie. Über die Philosophie Platons hat die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele den Einzug in die Schriften der Kirchenväter gefunden. Das heutige Evangelium bietet uns ein tieferes Bild des ewigen Lebens an. Gott hat bereits jetzt seine ganze Liebe in das Herz des Menschen hineingelegt. Das ewige Leben ist das unbegrenzte Vertrauen auf Gottes Liebe. Am Ende wird der Tod nicht stärker sein als die Liebe Gottes. Vielmehr wird diese Liebe dem Menschen auch über die Grenzen dieser Welt eine Zukunft schenken, auf die er sich verlassen kann.
Schon hier und heute lässt sich erahnen, was es heißt, das ewige Leben zu erleben. Der Mensch soll in diesem Leben im Vertrauen auf die Liebe Gottes wachsen, die grenzenlos ist und niemals aufhören wird. „Niemand wird sie meiner Hand entreißen“ und „Niemand kann sie der Hand meines Vaters entreißen“ – so die Worte des Hirten in Joh 10,28 und 29. Das Band, das uns mit der Hand des Hirten und des Vaters verbindet, ist die Liebe. Dieses Band ist unlösbar. Das Bild des Schafstalles ist ein Bild der Einübung: In unserem Leben dürfen wir wie die Schafe auf die Stimme des guten Hirten hören und ein solches Vertrauen üben, dass wir niemals von seiner Liebe weichen möchten. Das Vertrauen führt uns zum Leben und macht es voller, lebendiger, liebevoller. Dadurch ist das ewige Leben schon jetzt mitten unter uns.
Vertrauen und Anvertrauen
4. Sonntag der Osterzeit
Joh 10,27-30