Wie intensiv haben Sie früher das Glaubensbekenntnis gelernt, gebetet und aufgesagt? Es beginnt mit den Worten: „Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen“. Das sind bereits problematische Formulierungen. Ist Gott als eine menschliche Figur zu verstehen? Ist er ein Vater, so wie ein Mensch ein Vater sein kann? Ist er ein Mann? Warum soll er keine Frau sein?
Ich denke bei diesen Formulierungen sogleich an die Brüder von Taizé. Sie singen: „Gott ist nur Liebe, wagt für die Liebe alles zu geben. Gott ist nur Liebe, gebt euch ohne Furcht.“ Sie verdeutlichen die Aussage des Glaubensbekenntnisses über Gott, indem sie IHN mit reiner Liebe beschreiben, wie es auch das Neue Testament ausdrückt. Mit dieser Beschreibung kommen sie dem Kern Gottes näher. Könnte man daher statt „Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen“ nicht auch „Ich glaube an die Liebe, die Gott ist“ sagen? Dann kann man Gott immer noch wie einen liebenden Vater oder eine liebende Mutter betrachten, wenn man dieses Bild des Glaubensbekenntnisses übernehmen möchte. Gleichzeitig kann man die Allmächtigkeit Gottes aus dem Glaubensbekenntnis spezifizieren: Gott ist kein Zauberer, der überall eingreifen und alles wiederherstellen kann. Er ist allmächtig in der Liebe. Seine Liebe ist grenzenlos. Seine Allmacht der Liebe verwirklicht sich in seiner Treue zu seinem Volk. Was auch immer im Leben geschieht, es bleibt sein Versprechen, dass er in Treue und Liebe an unserer Seite gehen wird. Das lateinische ‚fides‘ heißt nicht nur ‚Glaube‘, sondern auch ‚Vertrauen‘. Es ist viel leichter zu sagen: ‚Ich glaube dir‘ als nur ‚Ich glaube‘. Wir gehen dann wirklich eine Beziehung zu einem Gegenüber ein. Wir schenken ihm Vertrauen. Wenn wir an Gott glauben, vertrauen wir darauf, dass er seine Liebe in diese Welt hineingelegt hat und dass diese Liebe niemals von uns gehen wird. Wir glauben ihm. Wir vertrauen ihm.
In der Friedensschule haben wir für Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 11 verschiedene Beratungsangebote eingerichtet. Diese Angebote beziehen sich nicht nur auf den Bereich der Leistungsverbesserung, sondern u.a. auch auf die Seelsorge. An einem Tag durfte die Stufe 11 vor Kurzem die verschiedenen Angebote kennenlernen. Wann immer Jugendliche zu mir gekommen sind, habe ich ihnen vom Gedanken des Vertrauens erzählt und ihnen versprochen, dass ich alles, was sie mir anvertrauen, bei mir behalten werde. Zu wissen, dass man sich jemandem anvertrauen kann, ist besonders in der heutigen Zeit entscheidend. Die Schülerinnen und Schüler suchen ihren eigenen Weg. Viele haben Zukunftsängste. Manche haben aus den Ängsten der Corona-Zeit bisher nicht herausgefunden und müssen neues Vertrauen ins Leben erst wieder lernen und gewinnen. Selbst das Lernen in der Begegnung muss nach Monaten des Distanzunterrichtes erst wieder gelernt werden, weil sich die Beziehungen in der Zwischenzeit verändert haben. Je tiefer ihr Vertrauen in mich und in die anderen Menschen ist, die sie begleiten möchten, desto ermutigender sind diese Gespräche. Auf dieser Basis können wir dann diese Probleme zusammen angehen und vielleicht bewältigen.
Ich habe die Jugendlichen gefragt, was ‚Vertrauen‘ für sie bedeutet. Dies sind ihre Antworten:
- Vertrauen heißt für mich, mich uneingeschränkt auf einen Menschen verlassen zu können, egal, was passiert oder kommt.
- Wenn es mir schlecht geht, kann ich immer und egal, zu welcher Zeit, zu dieser Person kommen.
- Vertrauen ist das Wertvollste im Leben – für mich ist es lebensnotwendig.
- Ein Mensch, der immer für mich da ist, der offen ist und mir Freiheiten lässt.
- Einem Menschen alles sagen zu können und zu wissen, es ist gut bei ihm aufgehoben.
- Einen Menschen zu haben, mit dem ich alles, aber wirklich auch alles teilen kann.
- Vertrauen und Freundschaft gehören für mich zusammen.
- Ein vertrauensvoller Mensch ist für mich jemand, der etwas sagt und dem ich das, was er gesagt hat, uneingeschränkt glauben kann.
- Ich verbinde Vertrauen mit Respekt, Offenheit und Empathie.
- Einem Menschen etwas anzuvertrauen, ohne Angst zu haben.
- Vertrauen hängt für mich mit Sicherheit, Zuverlässigkeit und Geborgenheit zusammen.
Es gibt mir große Freude, immer wieder mit diesen jungen Menschen ins Gespräch zu kommen.
Wie passt das harte, strenge, ja, unmenschlich klingende Wort aus dem heutigen Evangelium zu dieser Zusage? „Viele Menschen begleiteten Jesus; da wandte er sich an sie und sagte: Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja, sogar sein Leben gering achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein. Wer nicht sein Kreuz trägt und hinter mir hergeht, der kann nicht mein Jünger sein“, heißt es bei Lukas. Diese Worte müssen interpretiert werden. Das Entscheidende ist, was Jesus selbst gelebt und gesagt hat. Wir dürfen darauf vertrauen, dass er aus der Liebe Gottes ‚geboren‘ ist und genau wusste, was Gott denkt und fühlt. Jesus trug diese Liebe Gottes in sich und er hat diese Liebe in dieser Welt überzeugend und ohne Kompromisse gelebt. Die Jünger haben seine Worte nachdenklich angenommen. Wir dürfen darauf vertrauen, dass sie das in ihren Herzen getragen und mündlich weitergegeben haben, was Jesus ihnen mitgeteilt hat. Natürlich hat jeder Jünger dies mit der eigenen Sichtweise zusammengebracht. Die vier Evangelisten haben aufgeschrieben, was die Jünger mündlich weitergegeben haben. Auch darauf dürfen wir vertrauen. Aber natürlich müssen wir das geschriebene Wort immer aus der damaligen Zeit heraus verstehen und übersetzen.
Jesus von Nazareth hat als Jude aus der jüdischen Tradition heraus gelebt und sie doch an verschiedenen Stellen radikal verändert, ja, reformiert. Er hat neue Gedanken hinzugefügt bzw. das Wort der Tradition neu ausgelegt. Beispielsweise wies er die Menschen darauf hin, dass das strikte Festhalten am Gesetz sie nicht zum Leben führen würde. Es muss hingegen in Liebe angewendet werden, um zum Segen für die Menschen und die Welt werden zu können. Stellen Sie sich die jungen Menschen von damals vor, die ihren Eltern von den Worten Jesu erzählt haben und scharfe Reaktionen aushalten mussten, weil man in der Familie der Ansicht war, dieses Neue würde nicht mehr länger zur Tradition passen, d.h. zu dem, was die Menschen gelernt hatten. Jesus hat die Menschen natürlich darin bestärkt, den Sabbat zu heiligen. Trotzdem hat er sich auch am Sabbat um den Kranken gekümmert, der am Wegesrand lag, weil nur das zu wirklichem Leben und Segen führt. Diese Neuauslegung des Sabbat-Gebotes war von einem eigenverantwortlichen Umgang geprägt, der das Gesetz erfüllen, es aber vor allem in Liebe anwenden wollte.
Jesus ist es nicht in erster Linie um die Familie gegangen. Er hat sich selbst als 12-Jähriger von seiner Familie gelöst, um beim ‚Vater im Tempel‘ zu sein. Die Menschen in seiner Familie haben wiederum nicht verstanden, wie er ihnen das antun konnte. Jesus ging es darum, auf Gott zu setzen und anderes dafür loszulassen. Dadurch hat er die Familienbande relativiert. Er hat sie nicht durchgeschnitten, sondern sie in die Gottbezogenheit eingeordnet. So liest man in Lk 8,19-21: „Es kamen aber seine Mutter und seine Brüder zu Jesus; sie konnten jedoch wegen der vielen Leute nicht zu ihm gelangen. Da sagte man ihm: Deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und möchten dich sehen. Er erwiderte ihnen: Meine Mutter und meine Brüder sind die, die das Wort Gottes hören und tun.“
Können Sie sich vorstellen, wie schwer es unter diesen Umständen war, das Vertrauen in die Liebe Gottes zu gewinnen, wenn man in einem anderen Kontext groß geworden ist? Jesus fordert uns Menschen auf, erwachsen zu werden und selbstbestimmt zu leben. Wir sollen Verantwortung für unsere Art zu leben tragen und das, was wir als Kind gelernt haben, später selbst reflektieren und schauen, was das Gelernte für unser eigenes Leben in der jeweiligen Zeit neu bedeuten kann. Es kann unter Umständen vorkommen, dass wir uns gegen die Autorität der Eltern wenden müssen. Wir sollten überlegen, ob wir fremdbestimmt sind und die Vorgaben der Tradition oder der Eltern für uns übernehmen können. Oder ist es besser, sich davon zu lösen, um einen eigenen Weg zu suchen? Am Ende kommt es darauf an, was Gott in unser Herz gelegt hat. Dies gilt es zu suchen und zu verwirklichen.
Wir wissen alle, wie schwierig das Leben in einer Gruppe werden kann, wie lieblos es manchmal untereinander wird, wenn nicht alle in allem übereinstimmen. Wir haben alle schon die Erfahrung gemacht, wie stark der Druck in einer Gruppe werden kann, wie viel Kraft es braucht, dem Gruppenzwang nicht nachzugeben und den eigenen Weg weiter aufrecht zu gehen. Dann kann es hilfreich sein, sich nach innen zu wenden und in Audienz mit Gott zu gehen, um zum eigenen Selbst zu finden. Manchmal ist es nötig, die Gruppe und ihre Ansichten hinter sich zu lassen, wenn es auf andere Weise nicht mehr möglich ist, als mündige Persönlichkeit zu leben, die dem eigenen Herzen folgt.
Der Philosoph Søren Kierkegaard hat im 19. Jahrhundert die Kirche wegen ihrer Laschheit kritisiert und damit die einzelnen Christen, die keine Verantwortung übernehmen wollten, mitabgekanzelt. Er hat betont, dass der Glaube nicht allein vom Verstand lebt, sondern von der Art und Weise, wie der Einzelne diesen Glauben spürt und im Alltag lebt. Der Glaube stirbt, wenn er nur gedacht wird.
Was passiert, wenn wir unseren Glauben heute in einer Institution leben müssen, die die höchste Unglaubwürdigkeit besitzt? In Umfragen erhalten Kirchenoberhäupter ähnlich kritische Bewertungen wie Politiker. Sie stehen an unterster Stelle. Die Menschen glauben den Verantwortlichen in den Kirchen nicht mehr. Sie erleben sie nicht als wahrhaftig. Wie sollen sie Vertrauen gewinnen, wenn diese Verantwortlichen den Glauben nicht mehr mit dem Herzen vorleben? Selbst wenn Wege gesucht werden, die Kirche gemeinsam zu reformieren, wie beispielsweise der synodale Weg, dann werden die Reformer noch im Prozess von Rom und einigen deutschen Bischöfen in ihre Schranken gewiesen. Wie soll es unter dieser Voraussetzung möglich sein, dass die Menschen Vertrauen gewinnen? Wie kann in dieser Situation Lebendigkeit erzielt werden, wenn die ersten Funken von neuen Ideen bereits gelöscht werden? Es ist absehbar, dass das Vertrauen in die Kirche weiter sinken und der Glaube der Menschen dieses Gerüst verlieren wird.
Der Glaube braucht Vertrauen. Wir vertrauen Gott im Glauben unser Leben an. Der Glaube braucht aber auch Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit. Dafür hat Jesus gelebt; dafür ist er aufgestanden; dafür hat er Konflikte in Kauf genommen. Jeder Gläubige muss sich vor diesem Hintergrund immer wieder fragen, ob er im Zeichen der Liebe lebt. Wo immer wir unser Herz sprechen lassen und den Menschen mit Liebe begegnen, sind wir auf der Spur Gottes.
Vertrauens-Mensch
Lk 14,25-33