Im Zug ist der Speisewagen der entscheidende Ort des Miteinanders. Bislang Fremde sitzen zusammen an einem Tisch und essen. Sie kommen miteinander ins Gespräch und können sich entspannt zurücklehnen. Der Zug kommt nicht eher an, bis er ankommt. Keiner muss zum nächsten Termin hetzen. So eröffnet sich ein Raum, in dem man sich kennenlernen kann.
Auch in Familien nimmt der gemeinsame Mittags- oder Abendbrottisch einen wichtigen Stellenwert ein. War man in den restlichen Stunden seinen eigenen Interessen oder Pflichten nachgegangen, so kommen zum Essen alle zusammen und erzählen einander von den Erlebnissen des Tages. Aus vielen verschiedenen Leben wird in gewissem Sinne ein Leben. Genau das macht eine Familie aus.
Dass vermehrt Menschen allein essen, weil sie in keiner Familie eingebunden sind, ist ein Zeichen unserer Zeit. Das fehlende Miteinander führt dazu, dass auch das Essen zur Nebensache wird. Wo der Mensch keine Nahrung mehr durch Zuneigung erhält, verliert er auch den nährenden Faktor des Essens aus den Augen. Man könnte es so beschreiben: Man nimmt noch Nahrung zu sich, um am Leben zu bleiben, aber das Nährende der Nahrung geht über das Grundbedürfnis des Körpers nicht mehr hinaus. Es findet keine Freude am Essen statt – weil die Freude des Miteinanders beim gemeinsamen Mahl fehlt. In Corona-Zeiten ist die Zahl derjenigen, die allein essen müssen, deutlich angestiegen. Man trifft sich nur noch selten mit Freunden zum gemeinsamen Mahl, zur entspannten Runde beim Essen. Das hat eine zunehmende Vereinsamung in der Gesellschaft zur Folge.
Wenn Christen gemeinsam Mahl feiern, so stehen sie in einer Tradition, die auf Jesus zurückgeht. Am Abend vor seiner Verhaftung feiert er mit seinen Jüngern ein Paschamahl. Mit den sogenannten ‚Zwölf‘ möchte er das Paschalamm und ungesäuertes Brot essen. Damit will er in seiner jüdischen Freundschaftsgemeinschaft an die Befreiung der Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei erinnern. Jesus lebt in und aus dieser Tradition. Die Mahlgemeinschaft hält eine gemeinsame Identität aufrecht. Jesus und seine Jünger sind nicht nur als diese Mahlgemeinschaft, sondern als Mahlgemeinschaft mit den Israeliten der Vergangenheit zu betrachten.
Entscheidend bei der Szene des ‚letzten Abendmahles‘ ist, dass Jesus diese Mahlgemeinschaft in die Zukunft hinein fixiert, ihr aber eine neue Färbung verleiht. Zwar wird die bisherige Tradition mitgenommen – sie ist das Fundament –, aber nun setzt Jesus sich selbst, statt die Befreiung der Israeliten ins Zentrum der zukünftigen Gedächtnisfeier. Er, als Herr und Heiland, möchte in der Zukunft an den Mahlgemeinschaften teilnehmen. Er will dabei sein, wenn in Zukunft das Brot nach jüdischer Tradition gebrochen und an die Gemeinschaft verteilt wird. „Tut dies zu meinem Gedächtnis“, heißt es im Lukas-Evangelium. Dort wird außerdem nicht einfach nur vom „Bund“, wie bei Markus und Matthäus, gesprochen, sondern vom „Neuen Bund“. Der Bund von Jahwe mit seinem Volk wird im Teilen des Weinkelches in ein neues Licht gesetzt: in das Licht von Ostern.
Jesus verkündet während des Paschamahles das Reich Gottes. Vor diesem Horizont verteilt er Brot und Wein. Über das Brot sagt er: „Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird“. Damit seine Jünger und all jene, die dieses Brot in seinem Gedächtnis zu sich nehmen werden, das Reich Gottes erlangen, gibt er seinen Leib hin. Statt der Schlachtung des Paschalammes liefert er sich selbst an den Tod aus. Das ist die einmalige Liebestat Jesu. In der Hingabe seines Leibes schenkt er den Menschen seine Liebe. Der Wein soll in Zukunft sein Blut repräsentieren, das für diese Menschen vergossen wird, damit sie das ewige Leben gewinnen. Er geht für das Leben seiner Freunde in den Tod. Die Liebe Jesu schenkt Leben.
Dies feiern die Christen bei jeder Eucharistiefeier und mit besonderem Fokus am Gründonnerstag. Es war der Wille Jesu, dass seine Liebe durch uns in Erinnerung gehalten wird. Aber noch viel mehr: Es war der Wille Jesu, dass seine Liebe stets gegenwärtig bleibt, dass sie bei jeder Mahlfeier neu verwirklicht wird und immer wieder Leben schenkt. Es liegt auf der Hand, dass es diese Liebe ist, die den Menschen nährt. Erst durch sie wird Leben – ewiges Leben ermöglicht.
Wenn das Brot in den Leib Christi und der Wein in sein Blut verwandelt werden, so findet hier kein magischer Vorgang statt. Vielmehr ist es Aufgabe des Menschen, in Brot und Wein die göttliche Liebe und das ewige Leben zu erkennen und sich auf beides auszurichten. Es geht darum, dass der Mensch selbst sich wandelt und den Weg einschlägt, den diese Heilszeichen ihm bahnen. Ein gemeinschaftliches Feiern des Abendmahles erinnert die Menschen immer wieder daran, dass es Jesu Wunsch war, dass sie sich von seiner Liebe verwandeln lassen und das ewige Leben erlangen.
Der Aufenthalt im Speisewagen währt nicht ewig – jede Mahlgemeinschaft kommt zu ihrem Ende. Menschen müssen voneinander Abschied nehmen, auch wenn sie einander inzwischen lieb geworden sind. Es stellt sich dann die Frage, ob dieses Band der Liebe stark genug ist, die Trennung zu überstehen. Auf lange Sicht wird dies immer wieder zum Problem. Der Mensch ist nicht dazu geboren, lange allein zu sein, lange von seinen Lieben getrennt zu sein. Er braucht die Gemeinschaft. Umso schlimmer, dass in der Corona-Zeit so viele allein in den Tod gehen mussten, weil man ihre geliebten Menschen nicht zu ihnen gelassen hat. Gerade bei diesem endgültigen Abschied wäre die Liebe des Zusammenseins eine große Stütze und würde den Abschied erleichtern.
Auch Jesus und seine Jünger müssen einem Abschied ins Auge sehen. „Ihr werdet weinen und klagen“, heißt es im Johannes-Evangelium über die Jünger. Bei Markus und Matthäus zieht Jesus nach dem Paschamahl mit ihnen nach Gethsemane, wo er beten möchte. Jesus bindet sich an die Liebe seines Vaters, die ihm durch die Angst und die Traurigkeit, die seine Seele im Wissen seines Schicksals befallen haben, helfen soll. Er stellt sich also schon in den umfassenderen, göttlichen Kontext, hängt aber trotzdem noch an seinen Jüngern und ihrem irdischen Beistand. Darum bittet er sie, auf ihn zu warten. Er drückt seine Sehnsucht nach freundschaftlicher Nähe aus – immer wieder: „Bleibet hier und wachet mit mir…, wachet und betet“. Er bittet sie, im Gebet mit ihm und seinem Vater vereint zu sein. Er bittet sie darum, dass sie im Gebet an ihn denken. Er bittet sie darum, dass sie auf ihn aufpassen, wachen, während er wiederum den Vater bittet, dass der Kelch an ihm vorübergehen möge. – Doch seine Jünger bleiben nicht wach. Sie wachen nicht und beten auch nicht, sondern schlafen immer wieder ein. Ihre Liebe ist menschlich begrenzt. Jesus reagiert nicht nachsichtig, sondern vorwurfsvoll. „Konntest du nicht einmal eine Stunde wach bleiben?“, fragt er Petrus. Er lässt seine Jünger nicht in ihrer Begrenztheit, die auch Bequemlichkeit ist. Er fordert sie und ihre Liebe heraus. Wie kann es sein, dass sie schlafen, während ihr Freund mit seinem Schicksal kämpft? Ist das alles, was menschliche Liebe schafft? Einzuschlafen?
An dieser Stelle denke ich an meine eigene Situation. Auch ich musste gerade von meiner mir so vertrauten Gemeinde Abschied nehmen. Aber anders als Jesus empfinde ich es als einen getragenen Abschied. Ich habe sehr viel gebetet und im Gebet meine starke Verbindung zu Gott gespürt, dessen Liebe mich jeden Tag stützt. Noch dazu habe ich unendlich viele Menschen an meiner Seite, die wach geblieben sind, die für mich aufgestanden sind und aufstehen. Sie schenken mir in jedem Augenblick so viel Liebe, dass ich selbst ganz erstaunt bin. Sehr vorsichtig stelle ich mir vor, dass unsere intensive (Mahl-)Gemeinschaft uns über die Jahre eng miteinander verbunden und verwandelt hat – verwandelt in der Liebe, die wir in Gott erfahren und im Anderen gefunden haben. Diese Liebe wird mich immer nähren.