Wenn der Gründonnerstag zu Ende geht, dürfen wir im Gottesdienst noch einmal in den Lobgesang des „Te Deum“ einstimmen, bevor die Musik der Orgel bis zum Osterfest verstummt. Der Gründonnerstag fließt mit diesem klanglichen Überschwang in die Kargheit des Karfreitags hinein. Dieser Trauertag ist der einzige Tag im Jahr, an dem keine Eucharistie gefeiert wird. Das Leben als etwas wesenhaft Lebendiges bleibt gewissermaßen stehen. Auf die Vergegenwärtigung des entsetzlichen Leidens und Sterbens Jesu folgt eine Phase des Aushaltens. Trauer und Dunkelheit kann man manchmal nur aushalten. Der Mensch ist wie gelähmt, kann nichts mehr tun. Unsere Gesellschaft hat in den letzten Jahren viel Leid, Einsamkeit und Not aushalten müssen. Mit dem gegenwärtigen Krieg und seiner unbarmherzigen Gewalt wird gerade eine weitere Last auf die Schultern der Menschen gelegt, die er tragen und aushalten muss. Vielleicht lassen wir uns in diesem Jahr daher tiefer vom Leid Jesu berühren, weil wir uns selbst mitten im Leiden befinden. Wir gehen Jesus Christus bis unter das Kreuz entgegen.
Das Leben des Menschen ist immer bedroht. Im Alltag warten jeden Tag Bedrohungen durch Krankheiten und Einsamkeit auf ihn und von heute auf morgen kann sich das ganze Leben existentiell verändern. Kein Mensch weiß, wie sein Leben sich entwickeln und wann es vorbei sein wird. Vor dem Hintergrund dieser Lebensschwere stellt sich mir die Frage, warum der Mensch zusätzliche Bedrohungen durch einen Krieg schafft. Warum greift er selbst noch zur Gewalt und vergrößert dadurch das Ausmaß an Bedrohungen? Warum schafft er sich sein eigenes Kreuz?
An den Kartagen sind wir mit der Bedrohung des Lebens Jesu konfrontiert. Jesus ist nach Jerusalem eingezogen, um die Botschaft der Liebe Gottes in die Welt hinauszutragen. Er wusste, dass er damit den Mächtigen der damaligen Zeit ein Dorn im Auge sein würde. Er wusste in seinem Herzen, dass diese Mächtigen ihm das Leben nehmen würden, um die Verbreitung seiner Botschaft zu verhindern. Denn die Liebe ist eine Bedrohung für jede Form von Macht. Die Jünger spürten ebenfalls, dass die Situation brenzlig wurde. Als sich ihr Gespür bewahrheitet hat, sind alle bis auf Johannes davongelaufen. Ein Jahr waren sie mit Jesus zusammen und haben von ihm neue Lebensperspektiven bekommen. Er hat ihnen gezeigt, was tiefes Leben ausmacht. Nun mussten sie gewaltsam von ihm Abschied nehmen. Das hat ihnen das Herz gebrochen. Sie konnten die Not und das Leid nicht aushalten.
Wir kennen es doch auch, wenn eine Situation zum Davonlaufen ist. Wir müssen uns erst einmal distanzieren. Eine äußere Wunde muss gepflegt werden, damit sie nicht sofort wieder aufbricht. Dafür muss sich der Mensch zurücknehmen und ‚weglaufen‘. Irgendwann ist es aber notwendig, sich den Fragen zu stellen, sich mit der eigenen Lebenswahrheit und den Bedrohungen des Lebens zu beschäftigen. Kein Mensch kommt an der Frage vorbei, wie er lebt und woraufhin er lebt.
Ist ein geliebter Mensch bedroht, empfinden wir das wie ein Schlag im Innersten unseres Herzens. Um das aushalten zu können, müssen wir vielleicht erst etwas Abstand gewinnen. Wie kann die Auseinandersetzung mit der erdrückenden Trauer gelingen? Sie braucht vor allem Zeit. In der Gesellschaft werden lange Trauerphasen kaum akzeptiert. Sie fordert den Blick nach vorn. Unseren Familien möchten wir unsere Trauer irgendwann nicht mehr zumuten. Aber jeder trauernde Mensch muss seinen eigenen Weg durch diese wohl schwerste Zeit des Lebens finden. Die Angst vor dem unbekannten und ungewohnten Neuen kann lähmen; Perspektivlosigkeit wird den Weg weiter behindern. Die eigenen Gefühle sind oft überwältigend. In einer afrikanischen Gemeinde habe ich erlebt, dass die Menschen ihre Trauer und Klage zusammen herausschreien und herausweinen müssen. Sie lassen einander in dieser Zeit niemals allein, sondern tragen den Schmerz gemeinsam. Ich kenne Menschen, die in den Wald gehen, um sich Luft zu verschaffen, wenn die Bedrohungen sie zu erdrücken drohen. Sie suchen einen Weg, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und sich von innen her zu lösen.
Auch Jesus musste seinen eigenen Weg durch die Bedrohungen gehen. Er musste sich den Dunkelheiten stellen. Er stand als wahrer Mensch mit schwerem Herzen vor ihnen – und er hat standgehalten und für uns einen Hoffnungsweg eröffnet. Spüren Sie, wie nah er uns ist und wie sehr er an unseren Fragen und Sorgen Anteil nimmt? Er kennt unser Leid, weil er selbst unendlich gelitten hat. Er leidet das Leid eines jeden Geschöpfes mit.
Jeder Mensch muss sich seinem Leben stellen und annehmen, dass sein Leben auf eine Grenze stoßen wird. Irgendwann kommt der Tag, an dem jeder diese Welt verlassen muss, an dem jeder die geliebten Menschen an seiner Seite loslassen muss. Der Mensch weiß das vom Verstand her, aber er kann diesen Abschied nicht üben. Es gibt keinen Entwurf, sich auf das Sterben und den Tod vorzubereiten. Sterben ist einmalig und wird von Gefühlen begleitet, die der Verstand nicht vorhersehen kann. Zu spüren und zuzulassen, dass der Tag des Abschieds einmal auf uns zukommen wird, kann eine Hilfe auf dem Weg zum Lebensende sein. Es kann unserem Leben eine besondere Tiefe schenken und uns bewusst machen, was das wirklich Notwendige im Leben ist. Im Grunde muss der Mensch versuchen, den Tod als Wirklichkeit in sein Leben zu integrieren und dem Wesen des Lebens damit gerecht zu werden.
Der Mensch braucht neben der Bewusstmachung des Todes und der Auseinandersetzung mit dem Leid aber auch Zeichen der Hoffnung und des Lichts. Dieses Licht wirkt auf ihn umso stärker, je tiefer die Dunkelheit ist. Schon ein bisschen Licht bedeutet ihm dann sehr viel. Es durchbricht jede Dunkelheit und hat stets mehr Kraft als diese. Manchmal sehen wir die Freuden im Leid nicht. Aber wenn wir nur genau hinschauen, dann stoßen wir plötzlich auf Menschen, die das Schwere mit uns tragen möchten. Sie sind Geschenke Gottes, die uns aufrichten sollen und uns wieder lebendig machen können. Die Osterkerze, die wir in der Osternacht am Feuer vor der Kirche entzünden und in die dunkle Kirche hineintragen, bringt symbolisch das Licht und die Liebe Jesu Christi in unsere Gemeinschaft. Zünden wir an dieser Osterkerze unsere kleinen Kerzen an, verbreitet sich sein Licht sternförmig und erhellt unsere Herzen. Er hat den Glauben an die Liebe in unsere Welt gebracht und hält diesen Glauben in unseren Herzen am brennen. Das Alpha und das Omega auf der Osterkerze bezeugen seine Nähe, die er uns für alle Zeiten, in all unseren Höhen und Tiefen zugesagt hat. Er hat das Kreuz für uns getragen. Machen wir unser Vertrauen in seine Nähe in uns und untereinander groß, erfüllen wir die Kreuze unseres Lebens mit dem Licht des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Wenn wir auch im Leiden an der Liebe, die von Christus ausgeht, festhalten und uns von ihr berühren lassen, ist etwas da, das uns aufrichtet. Das Leben ist ein Geschenk. Dieses Geschenk anzunehmen, bedeutet, nicht nur auf die Dunkelheiten zu schauen, sondern auch die Zeichen der Hoffnung und des Glücks zu sehen. „Wenn das Leben bedroht ist, ist die Freude nicht einfach weg“, bemerkt Verena Kast. Wir leben aus dem Glauben, dass wir niemals tiefer fallen können als in die liebenden Hände Gottes, und wir wissen, dass Gott uns mit Liebe überschütten möchte.
Die entscheidende Kraft im Leben Jesu war, dass er auf ein Ziel hingelebt hat. Sein Ziel war, die Liebe Gottes in die Welt zu bringen. Nachdem dies geschehen war, ist er in diese Liebe zurückgekehrt. Er war aus dem Vater und ist zum Vater zurückgegangen. Für Menschen bedeutet dies, dass auch sie auf ein Ziel hinleben und dass dieses Ziel nicht der Tod, sondern das Leben ist. Der Name ‚Jesus‘ bedeutet ‚Gott rettet‘. Jesus war sich gewiss, dass der Vater ihn vor den Dunkelheiten des Todes und der bösen Menschen retten würde. Er hat ihn zwar nicht vor dem Tod gerettet, aber im Tod. Glaube heißt vor allem an Ostern, in das Vertrauen Jesu hineinzuwachsen und seine Gedanken und Lebenseinstellungen in eigenen Herzen groß zu machen. Dieses Vertrauen kann bereits in Kindertagen eingeübt werden.
Der Mensch ist nicht auf den Tod, sondern auf Unendlichkeit ausgerichtet. Diese Unendlichkeit besteht in der unendlichen Liebe Gottes, deren Wesen Leben ist. Unser Leben ist bereits der Anfang der Ewigkeit. Oscar Wilde sagt: „Am Ende ist alles gut, und wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende“. Das ist eine moderne Formulierung der Osterbotschaft. Am Ende des Lebens wartet das Licht des Ostermorgens. Gott macht alles neu für uns. Wer das hier und heute annehmen kann, gewinnt dadurch eine Lebenskraft, die ihn in den Bedrohungen des Lebens trägt. Die Perspektive, die sich dadurch eröffnet, lässt den glaubenden Menschen aufrecht gehen.
„Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?“, fragt der Engel die Frauen am leeren Grab Jesu (Lk 24,5). Mein Bruder ist im Alter von drei Jahren gestorben. Wann immer ich meine Eltern besuche, gehe ich zu seinem Grab und höre dort in meinem Inneren diese Worte. Das Grab stellt nur das Ende der menschlichen Geschichte auf Erden dar. Aber der Mensch ist auf Unendlichkeit ausgerichtet. Wenn ich eine brennende Kerze auf das Grab meines Bruders stelle, spüre ich die Gewissheit in mir, dass mein Bruder die Dunkelheiten des Todes überwunden hat und lebt. Die Kerze symbolisiert meinen Glauben an die Osterkerze Jesu Christi, der dieses Lebenslicht unserer Welt offenbart hat. Das nimmt mir nicht meinen Schmerz, stellt meine Traurigkeit aber in ein neues Licht.
Ich wünsche uns, dass wir niemals die Hoffnung aufgeben und uns immer wieder zum Licht ausstrecken. Die Toten sind nicht einfach weg, sondern uns einen Schritt zum Licht vorausgegangen. In der Osternacht feiern wir dieses Licht. Es soll uns nicht nur in den schweren Stunden unseres Lebens entgegenleuchten, sondern uns auch im Alltag daran erinnern, dass wir immer wieder kleine Zeichen der Auferstehung erleben. Wenn wir nur aufmerksam hinschauen, erkennen wir, wie Gott uns durch die Menschen und die gesamte Schöpfung immer wieder aufrichtet. „Das ist Auferstehung mitten im Leben“, sagt Kurt Marti. Möge die Osterbotschaft der Liebe und des Lebens uns durch die Zeit tragen und uns aufrechter durch unsere Höhen und Tiefen gehen lassen.
Wenn das Leben bedroht ist, ist die Freude nicht einfach weg
Ostersonntag
Lk 24,1-12