Predigtreihe in den Advents- und Weihnachtstagen – „Wertschätzung“
- Advent: Ein wertvoller Mensch
Es ist immer wieder eine Freude, mich mit anderen Menschen austauschen zu können, mit ihnen Gedanken zu teilen. Denn ein wichtiges Element des Lebens ist es, einander durch die verschiedenen Gedanken, die wir haben, weiterzubringen und auf diese Weise gemeinsam tiefer in den Glauben einzusteigen. Darum habe ich mich sehr gern mit Schülerinnen und Schülern aus der 10. Klasse über das Thema „Wertschätzung“ ausgetauscht. Ihnen ist an diesem Begriff vor allem zweierlei aufgefallen: Zuallererst fällt das Wort „Schätzung“ auf, das sich in „Wertschätzung“ verbirgt.
Wie oft schätzen wir Menschen ein? In einem Schulgottesdienst haben die Schülerinnen und Schüler diese Frage bildlich umgesetzt. Eine Schülerin stellte sich allein vor die Klasse – alle anderen liefen an ihr vorbei und beurteilten sie danach: „Sie sieht sympathisch aus, aber auch arrogant. Sie sieht eher zurückhaltend und schüchtern aus. Sie sieht fordernd und gradlinig aus.“ Danach empörte sich die Schülerin: „Wie kann mich jemand, der schnell an mir vorübergeht, einschätzen? Er kennt mich doch gar nicht.“
Wir haben diese Situation selbst schon häufig im Leben erlebt. Wir schätzen einen Menschen ein und merken später, dass wir völlig falsch gelegen haben. Wir haben Äußeres wahrgenommen, bleiben somit an der Oberfläche, und doch geben wir ein Urteil über die gesamte Person ab. Wir übersehen außerdem schnell, dass ein Mensch sich verändern kann. Natürlich ist das nicht immer der Fall. Die Erkenntnis, dass gewisse Menschen sich trotz großer Schwächen nie verändern, kann frustrierend für eine Beziehung sein. Wir scheitern an der durch unsere Hoffnung entstandenen Einschätzung, eine Änderung sei leicht möglich. Noch schwieriger ist der Umgang mit Menschen, die ihr Herz verschlossen haben und dabei bleiben. Ein Zugang zu solchen Menschen ist eine große Herausforderung. Ich gebe zu, dass ich mich daher mit manchen Menschen schwertue. Gerade aber in diesen Fällen müssen wir uns klarmachen, dass jede Einschätzung eines Menschen mit Fragen behaftet ist, die wir uns stellen müssen.
Die Schülerin sagte zum Schluss: „Ich möchte wirklich wahrgenommen werden. Ich möchte nicht vorschnell eingeschätzt werden. Ich möchte, dass man sich mit mir beschäftigt.“ Diesem gerecht zu werden, verlangt einen hohen Anspruch an uns selbst.
Zweitens steckt das Wort „Schatz“ in „Wertschätzung“. Einen Schatz zu finden, ist kostbar und wertvoll. „Heutzutage kennen die Menschen vor allem den Preis, von nichts den Wert“, stellt Oscar Wilde fest. Die Schülerinnen und Schüler haben aus diesem Grund darüber nachgedacht, welcher Schatz in einem Menschen versteckt sein kann. Was macht ihn wertvoll?
Hier sind ihre Antworten:
… wenn man hilfsbereit ist – Hilfsbereitschaft
… wenn man Dankbarkeit empfindet – Dankbarkeit
… wenn man die eigenen Bedürfnisse auch mal in den Hintergrund stellen kann – Bedürfnisse
… wenn man nicht alles für selbstverständlich nimmt – Selbstverständlichkeit
… wenn man einfühlsam ist – Fühlen
… wenn man sich Vertrauen schenkt – Vertrauen
… wenn man sich liebevoll begegnet – Liebe
… wenn man ehrlich zueinander ist – Ehrlichkeit
… wenn man trotz einiger Fehler wertschätzt und verzeiht – Wertschätzung
… wenn man bereit ist, sich selbst zu ändern und sein Verhalten zu überdenken – Veränderung
… wenn man Trauer zulässt und seine Gefühle mitteilen kann – sich öffnen
Den Gedanken, es sei von Wert, die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen, möchte ich gern vertiefen. Wie oft fragen wir uns: Was bringt mir das? Wir beziehen diese Frage nicht nur auf andere Menschen, sondern auch auf Gott: Was bringt mir der Glaube? Wer auf diese Weise spricht, ist weder beim Menschen noch bei Gott. Er ist bei sich. Wer nur auf den Nutzen für sich selbst schaut, begegnet den anderen Menschen und Gott auf egozentrische Weise. Sieht dieser Mensch ein, dass kein Nutzen von einer Begegnung zu erwarten ist, öffnet er sich auch nicht für sie. Wer hingegen seine Bedürfnisse zurückstellt, ist beim anderen und schenkt diesem die Gewissheit, dass er gut aufgehoben ist.
Ein wertvoller Mensch ist jemand, den ich nachts um 4 Uhr anrufen kann, wenn ich Hilfe und Unterstützung brauche, der kommt, wenn ich ihn brauche, weil er spürt, dass ich jetzt nicht allein sein kann. Solch ein Mensch stellt seine eigenen Bedürfnisse zurück und ist ganz beim anderen.
Er bezeugt so das Wesen Gottes, das dieser selbst in Exodus 3,14 offenbart: „Ich bin der Ich-bin-da“. Wenn mir ein Mensch auf diese Weise zeigt, dass ich wichtig für ihn bin, dass ich – wie Eugen Drewermann es formuliert – im Zweifelsfall die entscheidende Person bin, dann schenkt mir das ein Fundament, auf dem ich wachsen und reifen kann.
Wenn ein Mensch seine eigenen Bedürfnisse loslässt und beim anderen ist, wird er aber auch spüren, dass ihm dadurch von seinem Gegenüber Leben geschenkt wird. Eine Begegnung wie diese ist kostbar und schenkt Kraft. Auch wenn das Wertvolle gerade im eigenen Zurücknehmen liegt, so wird der Mensch gerade in diesem Zurücknehmen beschenkt.
Ein wertvoller Mensch ist außerdem jemand, der seinen Glauben ausdrücken und teilen kann. Wir brauchen Glaubensgemeinschaft und können ohne den anderen nicht glauben und leben. Es ist entscheidend, dass wir uns gegenseitig im Leben bereichern. Im christlichen Sinne bedeutet dies, nicht nur auf das Irdische zu schauen, sondern ebenso auf das Unendliche. Im Grunde liegt der Sinn von Kirche gerade darin, Gemeinschaft im Glauben zu leben und darin Freude, Zuversicht und einen Weg zu finden.
Die beiden Schriftlesungen, die ich für diesen Gedanken ausgesucht habe, machen deutlich, wie Gott den Menschen sieht. Jeder Mensch ist in den Augen Gottes wertvoll. Wir sind sein Abbild – nicht sein Ebenbild – und dadurch nah am Herzen Jesu. Jeder Mensch ist mit göttlicher Liebe beschenkt. Leider wird der Mensch dieser Tatsache oft nicht gerecht. In Genesis 1,24 lesen wir, dass der Mensch am sechsten Schöpfungstag erschaffen wurde und den Auftrag erhalten hat, über die Schöpfung zu herrschen – so die Übersetzung. Damit war ursprünglich ein Hüteauftrag gemeint, der in einen Herrschaftsauftrag umgewandelt wurde. Dabei übersieht der Mensch, dass er nicht einmal einen eigenen Schöpfungstag hat, sondern an diesem zusammen mit den Tieren des Feldes erschaffen ist. Dadurch wollte der Schreiber deutlich machen, dass der Mensch ein Teil der Schöpfung ist. Daraus folgt, dass der Mensch kein Recht hat, sich über die Schöpfung zu erheben und sie zu unterdrücken. Selbst in der Philosophie-Geschichte sind aber Tendenzen der Selbstüberhebung des Menschen zu finden. Bei Aristoteles werden die Lebewesen in drei Kategorien aufgeteilt. Die erste und höchste Stufe gilt dem Menschen. Die zweite Stufe umfasst die Tiere. Auf der dritten und letzten Stufe sind die Pflanzen zu finden. Eine solche Unterteilung birgt die Gefahr in sich, dass der Mensch sich oben anstellt und nicht wertschätzend und behütend mit den anderen Lebewesen umgeht. Déscartes stellt fest, dass er ist, weil er denkt. Weil der Mensch scheinbar mehr als andere Geschöpfe denken kann, erhebt er sich über diese.
Jesus hat ein besonderes Auge für die Wartenden, für die Zurückhaltenden, für die Ausgestoßenen, für die Geringgeschätzten, für die Zweifelnden. Ein gutes konkretes Beispiel für die Weise, in der Jesus den Menschen ansieht, finden wir in der Erzählung über den Zöllner Zachäus. Dieser wird von den anderen Menschen als schlechter Mensch, als Sünder verurteilt. Jesus schaut hingegen nicht darauf, dass Zachäus möglicherweise die Menschen als Zöllner betrogen hat. Er übernimmt die Sichtweise der anderen nicht. Denn diese sehen nicht, dass Zachäus auf Jesus wartet. Sie erkennen seine Sehnsucht nach Liebe nicht. Sie nehmen nicht wahr, dass der Zöllner dem einen entscheidenden Augenblick in seinem Leben, als Jesus an ihm vorbei kommt, viel Wachsamkeit und Aufmerksamkeit schenkt. Sie übersehen die Liebe, die in der Tiefe seines Wesens steckt und bisher nicht zum Vorschein kam. Jesus sieht all dies und zeigt Interesse an diesem ausgestoßenen Menschen und seinen Fragen. Damit lehrt er uns, dass wir jedem Menschen mit Aufmerksamkeit und der gesamten Schöpfung wertschätzend begegnen sollten.
Welche Begegnung war in Ihrem Leben von Wertschätzung geprägt? Welche Begegnung tragen Sie deshalb heute noch in Ihrem Herzen, weil Sie Ihnen und Ihrem Leben gutgetan hat?